Gute Momente: Mely Kiyak erzählt Geschichten (2024)

Der Vater steht in der supermodernen Küchenzeile desGeschwisters. Er sagt: Alekk-sa, mach mal Herd rauf, bittä. Alexa reagiertnicht. Alekk-sa, fragt Vater, warum machst du nicht den Herd rauf? Ich willeinen Kaffee kochen. Der Herd geht nicht an. Alekk-sa, mensch immer machst dunicht ich sage, resigniert der Vater. Alexa ist für alles Mögliche zuständig,aber nicht für den Herd. Der funktioniert mit Sprachsteuerung ohne persönlicheAnrede.

Er geht ins Wohnzimmer und will lesen. Er versucht es mitder Lampe, die er berühren muss, damit sie sich einschaltet. Sanft legt Vaterseine Hand auf den runden Lampenschirm, als streichele er das Köpfchen einesSäuglings. Er lässt die Hand zu lange ruhen. Das Licht schaltet sich ein, dimmtsich runter und geht aus. Wieder streichelt er das Köpfchen, wieder geht dasLicht an und langsam aus.

Er beschließt, seinem Kind mit der Wäsche zu helfen, aberdie Maschine hat keine Knöpfe, sondern nur ein Display, sonst nichts. Alekk-sa,ruft er, mach mal die Maschine rauf. Aber auch hier ist Alexa nicht zuständig.Kurz: Dem Vater gelingt in dieser Wohnung nichts.

Er ruft mich an und sagt, kızım, diese Wohnung ist somodern, man kann nicht essen, nicht trinken, nicht waschen, nicht lesen, wassoll ich tun? Ich sage, geh in den Garten und genieße die Morgensonne, ichwerde jetzt dein anderes Kind anrufen und es zur Schnecke machen. Aber nein,ruft der Vater, hör auf, ich bin stolz auf meine Kinder. Ihr lebt wie neueMenschen, und ich bin noch in der alten Welt. Ich rufe sein sogenanntes "neues"Kind an, er meinte natürlich modern und nicht neu. Ich schreie und mache es zurSau, wie es sich für eine ältere Schwester gehört. Spinnst du, unseren altenVater in deiner digitalen Hölle gefangen zu nehmen? Der Mann kann nicht einmaleine SMS schicken, und nun soll er mit jedem Kochlöffel und jedem Nudelsieb indeiner Scheißbude ein Gespräch führen, damit der Kram funktioniert? Du gehstjetzt sofort los und besorgst dem Vater einen Wasserkocher mit einemElektrostecker dran, und ein paar Hausschuhe kaufst du ihm auch.

Aber ich habeeine Fußbodenheizung, protestiert das Geschwister, es reagiert sensorisch…,diskutiere nicht, unterbreche ich, lauf! Zwischen uns liegen mehrereBundesländer, das Geschwister wird gehorchen, das brauche ich nicht zukontrollieren, das weiß ich. Es hat Meetings und Mitarbeiter, ist angesehen undmit einem Bein im Silicon Valley in San Francisco. Dort gilt es, sich in SachenAI auf den neuesten Stand zu bringen. Aber in der Familie gelten strikt dieanalogen Werte: Respektiere deine Eltern, höre auf deine älteren Geschwister.Vor allem, erniedrige deinen Vater nicht, indem du ihn alleine in deinerWohnung ohne Knöpfe und Stecker zurücklässt.

Am Abend ruft der Vater an und protzt. Ich habe jetzt ganzherrliche Hausschuhe und einen Wasserkocher. Bald bist du wieder bei mir, sageich zum Vater, hier ist es doch am besten. Kızım, sagt mein Vater, die Wohnunghier ist ganz toll. Es funktioniert alles mit der Stimme und der Berührung.Aber nur, wenn man weiß, wie es geht, insistiere ich. Ja, sagt Vater, man mussdas lernen, das ist doch keine große Sache. Aber Papa, sage ich, du willst dochjetzt nicht die Scheißbude vor mir verteidigen. Heute früh hast du noch ganzanders geklungen. Die Zukunft ist dijital, kızım, sagt Vater, unsere Träumewerden wahr, er klingt wie eine frühe Version von Steve Jobs. Ach Papa, komm dumal zu mir zurück, dann trinken wir einen schönen Kaffee und lästern über deinanderes Kind.

Das macht mein Vater nämlich immer ganz gerne, ist er bei mir,lachen wir über den anderen Nachwuchs. Ist er dort, wird über mich gespottet.Bei dir muss ich den Kaffee ja noch mit der Hand mahlen und mit einer Gießkannenass machen, wagt er sich für meinen Geschmack doch einen Schritt zu weit vor.Er meint meine sauteure japanische Tropfkanne. Die mit dem schlankenSchwanenhals. Im Hintergrund höre ich mein Geschwister rotzefrech und dröhnendauflachen.

Weißt du was, Papa, sage ich, es heißt nicht Alekk-sa, sondernAlexa, Punkt eins, Punkt zwo, der Herd wird nicht rauf- sondern angemacht. Nachfast sechzig Jahren kennst du immer noch nicht den Unterschied zwischen an,auf, zu, aus und rauf und runter, beleidige ich zurück. Ich höre den Vater amanderen Ende grinsen, ich kann das hören. Das Geschwister derweil quietscht vorLachanfällen und nimmt dem Vater den Hörer aus der Hand. Reg dich nicht auf,Schwesterherz, nimm ein paar Holzscheite, wärme das Wasser auf der offenenFlamme und nimm ein beruhigendes Bad im Holzbottich.

Ist doch klar, dass ichmitlachen muss, aber trotzdem: Die beiden Blutsverwandten sind komplettbekloppt, und die Bude bleibt ein Alptraum.

24.05.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 21

Tief in die Arbeit sinken und feststellen, dass hinter denWorten doch kein Schatz verborgen ist. Auch hat sich in keinem der vielenAlltagsgedanken eine Weisheit versteckt. Bücher, Zeitungen, Illustrierte liegenwie zu einem Scheiterhaufen getürmt, neben dem weichen, weißen Sessel. Zwecklosdarin herumzustochern. Da unten liegt nichts, das zu pflücken lohnt. Draußenauf der Fensterbank, im Kasten neben dem Bambus, brütet eine Taube zwei Eieraus. Zuvor hatte ich das Tier vom Fenstersims im Treppenhaus verscheucht. Dahatte sie ihr kunstvoll mit Stöcken und Zweigen gestecktes Körbchen bereitsausgelegt. Ich will keine Tauben im Haus. Schhhh, schhhh, mache ich, wenn ichihr morgens auf der Straße begegne. Beleidigt gurrt sie zurück. Wo soll ich dennhin?, fragt ihr Blick. Im Supermarkt, die Kassiererin legt eine neuePapierrolle in ihr Gerät und schiebt den Broccoli, die Sahne, dieBackpapierrolle über den Scanner.

Sie alle haben eine Arbeit. Die Taube wird Mama, dieKassiererin bringt ihre Einszwo netto nach Hause, und oben die Nachbarin hatnun auch endlich einen Job gefunden. Jeden Tag läuft sie frisch gewaschen undparfümiert durch das Treppenhaus und grüßt wieder freundlich. Nur unsereinsleuchtet wie ein Flaschensammler mit Taschenlampe in die leere Tonne und findeteinfach nichts, das sich verwerten ließe zu einer schönen nie da gewesenenBetrachtung des Lebens. Werde nie vergessen, wie mal ein Influencer auf einerGala beim Erhalt seines Awards selbstgerecht bis unter die kompliziertondulierte Frisur ins Mikrofon schrie: "Wir schaffen content, wir sind beautiful!".So viel Selbstempowerment verträgt sich nicht mit meinem Stolz. Also stehe ichhier und rufe, seht her, hier bin ich und kapituliere.

17.05.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 20

Interessiert las ich von der "New Yorker Erklärung zum Bewusstsein von Tieren", die am 19. April von 200 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde. Es bestünde die realistische Möglichkeit, dass alle Wirbeltiere und viele Wirbellose, kurz: vom Fisch bis zum Insekt, über eine bewusste Wahrnehmung verfügen. Daraus ergibt sich natürlich eine Verpflichtung für den Menschen. Der Schutz und das Wohlergehen der Tiere müssen stärker in den Fokus gerückt werden.

Bis ins 21. Jahrhundert hinein hatte sich in der Wissenschaft René Descartes Denken durchgesetzt, dass Tiere weder zu Gefühlen noch zu einem Bewusstsein fähig wären. So steht es jedenfalls in allen bekannten Texten über Tierethik. Ich habe mir längst abgewöhnt, Wissenschaftsgeschichte nur aus europäischer Geschichtsschreibung heraus zu betrachten. Vor über 2.000 Jahren machte sich der chinesische Philosoph Hsiang Hsiu Gedanken darüber, ob Tiere eine Sache sind, über die der Mensch für das eigene Überleben zu verfügen verdammt ist. Oder ob Tiere nicht doch Gefühle haben, was natürlich zur Folge hätte, dass Menschen sich schuldig machen, wenn sie ihnen wehtun. Er kam zu der Überzeugung, dass er sich nicht sicher ist. Zweifel ist meiner Ansicht nach der größte Ausdruck von Aufklärung.

Wahrscheinlich gab es in allen Jahrhunderten und Kulturen Menschen, Bauern, Tierliebhaber, die gewusst haben, dass Tiere zu Empfindungen fähig sind. Als kleines Mädchen sah ich oft, wie Hühner oder Schafe vor Todesangst schreiend vor der bevorstehenden Schlachtung wegliefen. Und wenn Vögelchen ihren Jungen ein Nest bauen, sie behüten und beschützen, was ist das anderes als Verantwortungsbewusstsein und Liebe?

Das neueste Experiment der Forscher der Queen Mary University of London ging so: Sie haben Hummeln vor die Aufgabe gestellt, mit Hilfe von bunten, kleinen Holzkügelchen etwas Süßes aus Löchern zu bugsieren. Das haben sie auch geschafft. Aber manche Hummeln fingen an, sich mit den Kugeln zu amüsieren, sie wirbelten sie zum Vergnügen herum. Der Verhaltensforscher Lars Chittka und seine Kolleginnen müssen sich riesig gefreut haben. Denn so eine Entdeckung ist natürlich sensationell und schön. Um sicher zu gehen, bauten sie eine neue Versuchsanordnung. Dieses Mal bekamen die Hummeln zwei Kammern. Eine zum Spielen, in einer anderen gab es köstliches Zuckerwasser. Von den 45 Hummelversuchsteilnehmerinnen blieben die meisten erst im Spielzimmer, tollten ausgiebig herum, bevor sie in die Kammer mit dem Schnaputzel weiterzogen. Das Spiel diente weder dem Futtersammeln, Nestbau, der Paarungsbildung oder einer anderen Überlebensstrategie. Kein Zweifel. Die Hummeln hatten einfach Bock zu spielen.

10.05.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 19

Wieder Sonntag, wieder in die BerlinerPhilharmonie.Das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor spielenund singendas Elias-Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Ichkenne die Musik nur als Aufnahme. Nicht der Schatten eines Zweifels, dass esbombastisch wird. Es gibt kein einziges europäisches Chorkonzert aus dem 19.Jahrhundert, das mir nicht gefällt. Die Story? Ach Gottchen, die Story.Musikalisches Werk mit christlichem Inhalt, so die musiktheoretischeEinordnung. Nach Worten des Alten Testaments, steht in derBeschreibung.Oft besteht ein Lied aus einer Strophe. Wiederholungderoneliner. "Rufet lauter, ruuufet lauter". "Es ist genug. Es istgenuuuuuug". Für mich sind es singende Gebete. Oft bestehen Schlusschoräle ausdem Amen. Es geht mir nicht um die Handlung. Es ist die Musik. Das Auffahrender Chöre, der Solisten, die Streicher, Bläser, Flöten. Die Orgel, diese gigantischeOrgel.

Es ist ein "Mitsingkonzert", Simon Halsey dirigiert. Ich lasdavon, aber gehört habe ich so etwas noch nie. Jeder kann mitmachen. Wer will,kauft sich die Noten. Es gibt sie im musikalischen Fachhandel für 20 Euro. OhneChorerfahrung geht es nicht, ist doch ganz klar. Zwei Proben wurden angesetzt.Zwei weitere Berliner Chöre boten die Möglichkeit, mit ihnen zu üben. DieHürden zum Mitmachen sind wirklich gering. Hier will man ganz offensichtlichverhindern, dass die Interessierten abspringen, weil die Bedingungen zukompliziert sind.

Beim großen Canapé-Verputz vor dem Konzert, Brie aufVollkornbrot und Falafelbällchen auf Hummus, höre ich, wie Tante Ilseinstruiert wird, "Mach auf jeden Fall Fotos, ich stehe vorne links." Aha, eineMitsingerin vor dem großen Auftritt, denke ich. Und tatsächlich, sie trägt wieeinige andere auch, bunte Bändchen am Handgelenk, und die Noten unterm Arm.Tante Ilse, auch schon völlig aus dem Häuschen, winkt ihr nach, und schreit: toi,toi, toi.

Ich setzte mich auf meinen Platz in Block B. Ich bin bis zumHals mit Aufregung und Anspannung gefüllt. Vielleicht weil ich weiß, dass mirdie Musik etwas gibt, das mir keine andere Kunst geben kann. Musik ist vonMenschen gemacht, aber größer als wir. Man macht sich wirklich lächerlich, wennman darüber spricht. Adjektive, Superlative, Plapperlative, nichts kann Musikbeschreiben. Ich las im letzten Jahr einige Konzertkritiken über Rammstein."Fulminant", "gigantisch", "toll!". Das Musikbeschreibungsspektrum zeichnetsich vor allem durch Wortmangel aus. Einmal las ich vor einem Requiem imBegleitheft, dass an einer bestimmten Stelle "der Himmel aufreißt". Da dachteich noch, also bitte! Dann begann das Konzert und genau an dieser einen Stelleriss der Himmel auf.

Von meinem Sitzplatz aus schaue ich auf Block A, darunterdas Orchester, darüber wird der Chor sich positionieren und dahinter steigenerneut die Zuschauerränge auf. Und an den Seiten, bis ganz nach oben. Würde ichmich umdrehen, sähe ich, dass auch hinter mir das Publikum in diskretaufsteigenden Reihen wie auf Terrassen sitzt. Wir, die Zuhörer im Großen Saal,umarmen mit unserer Masse von über 2.400 Plätzen die Musiker unten im Zentrum.Man sitzt fantastisch auf den bequemen Sitzen, sieht von jedem Platz aus gut,der Klang schwingt und pendelt durch den Raum.Dieser Saal ist einmalig inEuropa.

Ich gehe davon aus, dass die Mitsingenden sich im Chorbefinden werden. Das Licht wird gedimmt, die Leute hören auf zu kramen, mancheiner setzt noch rasch einen Räusperer ab. Die Musik beginnt.

Ouvertüre, alle meine Sinne beruhigen sich und sind dadurchbesonders gespannt. Ich muss nichts dafür tun, mein Körper reguliert das vonallein. Und plötzlich. Die Ouvertüre ist kurz, wie es sich gehört, rasant, undplötzlich. Plötzlich steht Block A geschlossen auf. Die Seitenränge stehen auf.Hinter dem Orchester stehen sie auf. Und rufen "Hilf". Wie viele sind das? Wie vielesingen? 100, 200? "Hilf, Herr, Hilf", singen sie, nein, das sind eher 500,vielleicht 800 Mitsängerinnen. Ich drehe mich zur Seite, da stehen und singensie auch, mir schießen die Tränen in die Augen, ich habe so etwas noch nie inmeinem Leben erlebt. Ich habe auch noch nie darüber gelesen und ich kenne auchniemanden, der mir davon erzählt hätte. Es müssen 1.000, nein, es müssen mehrals 1.000 Mitsinger sein, die gerade zu "Herr, erhöre unser Gebet"ansetzen.Später lese ich, dass es 1.300 Mitsängerinnen sind.ZweiStunden lang, verteilt im ganzen Saal, ohne Patzer, ohne Fehler, ganzbescheiden auf Dirigent und Noten konzentrierend, singen sie für uns einfacheLeute und zeigen, dass sie Menschen sind wie wir – und eben doch nicht.

Kann sich jemand vorstellen, was los ist, als das Konzert zuEnde ist? Wir,das Publikum, sind in der Unterzahl,springenvorEhrfurcht und Verehrung aufund wissen, dass unser ordinäresGeklatsche, Gepfeife und Gestampfe nur jämmerlicher Ausdruck unsererUnvollkommenheit sind. Ich sah uralte Männer heiser schreien, ich sah einenJungen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, seine mitsingende Mama oder Omaungläubig, aber beglückt beweinen, und ich sah reihenweise Berliner TanteIlses, die anerkennend Huhu rufen, fotografieren und noch beim Rausgehen nichtfassen können, was sie eben erlebt haben ("ditt war ja allerhand, wa!?").

Es gibt Momente im Leben, da spürt man, dass das Glückerfahrbar ist, nicht nur retrospektiv, sondernin derZeit,in der es geschieht. Man begreift, dass diese Erfahrung die Zeit dehnen kann.Man erlebt körperlich, dass man aus sich gerät und neu Gestalt annimmt. Ichsagte es vorhin schon einmal. Das macht die Musik. Ich wünschte, jeder fändefür sich diese eine Sache, die inneren Frieden stiftet und alle Fragenbeantwortet.

03.05.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 18

Philharmonie Berlin. Philippe Herreweghe dirigiert BrucknersMesse Nr. 3 in f-Moll. Hört man sich Aufnahmen an, egal unter welchem Dirigat,so klingt das Konzert bombastisch und laut. Herreweghe aber, ein alter,vitaler, freundlich schauender Mann, lässt alle Töne sanft klingen. Selbst wennder ganze Chor, das ganze Orchester und die Solisten zusammen spielen undsingen, ist es, als hebe er uns, das Publikum, zärtlich auf eine Wolke undschöbe uns Etage um Etage hoch. Er dimmt das Wuchtige herunter. Wir segeln aufden Klängen. Es ist so unbeschreiblich überirdisch. Mit Worten dem Ereignishinterher zu humpeln, ergibt keinen Sinn. Man muss es hören wollen. Ich will.Sonntag um Sonntag, ziehe ich mich fein an und mache mich bereit für dasSchönste, Tiefste, Weiteste, was der Mensch vollbringen kann: Musik. Ich kannvor Ergriffenheit kaum klatschen.

Herreweghe aber, nach dem Konzert, trägt keinerlei Maestro-Attitüdevor sich her. Kein oh Gott, ich bin erschöpft, ein letztes Mal noch in eineVerbeugung fallen lassen. Nein, er ist vergnügt und tänzelt die zahlreichenVorhänge rein und raus. Super lässig. Er lacht. Verteilt Küsschen. Ich denke,das macht das Alter. Ein letztes Mal winken und tschüss.

26.04.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 17/2024

Er ist immer der erste Anrufer. Herzlichen Glückwunsch kızım, und, so schön, dass du auf die Welt gekommen bist. Mein Vater trägt seinen Geburtstagsstrauß an Wünschen vor. Mögen alle meine Wege offen sein, möge mein Fuß kein Hindernis berühren, hızırs Hand ruhe schützend auf mir. Dann geht er die Organe einzeln durch. Beim Augenlicht beginnt er und schluchzt gleich los, bei Lunge und Leber fängt er sich, beim Herzschlag angekommen, hat er sich längst wieder im Griff. Er fasst noch einmal zusammen: ganze Körper, ganze Gesundheit, ganz lange hoffentlich!

Das Protokoll duldet keine Unterbrechung, keine Zwischenrufe oder Fragen.

Im Laufe der Jahre wurde die Liste immer spiritueller. Licht, Hoffnung und Schicksal sind jetzt feste Komponenten in Vaters Ensemble der guten Wünsche. Früher wünschte er praktische Dinge, "Herzlichen Glückwunsch kızım, hoffentlich Abitur kommt". Oder "Autoführerschein machen richtig gut". Es gab auch Jahre, da waren die Segenssprüche sehr profan, "Herzlichen Glückwunsch, Renovierung hoffentlich bald Ende", oder "Studium Abschluss mach mal endlich".

Bevor ich auflege, frage ich ihn wie alle Jahre, stell dir vor, du hättest mich nicht bekommen, was wäre gewesen? Ich hätte dich mein ganzes Leben lang vermisst, sagt er mit hochernster Vaterstimme. Dann kommt der letzte Teil des Geburtstagsgespräches. Bitte nimm meine EC-Karte, hebe dir Geld ab und kaufe dir was Schönes. Das soll dann von "deine papa" sein. Danke Papa, mach ich.

Natürlich hebe ich nichts ab. Nie.

19.04.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 16/2024

Vier Wochen sind vergangen, seit er starb. Wobei sterben eingroßes Wort ist. Er schmolz vor unseren Augen weg. Leise, diskret,zurückhaltend. Wie im Leben, so im Sterben. Wir stehen am Grab auf dem kleinenDorffriedhof. Die Pfarrerin hebt die Arme und hält die Handflächen in dieSonne. Sie übergibt gerade seine Seele an Gott. Vorhin in der Kapelle bat sieuns, ihr "auf den Acker Gottes" zu folgen. Ich mit meinen Ohren natürlichwieder in den Ästen. Ob er als Vogel auf dem Zweig steht und mir ein Zeichen zwitschert?Ist jemand bei Gott, wenn er selbst daran glaubte, ich aber nicht?

Bislang kamen noch alle Toten zu mir zurück. Sie kommenTage, Wochen oder Jahre später, um Adieu zu winken. Sie kommen als Vögel,manchmal als Wind. Eine machte sich als Packung Rigatoni aus demSupermarktregal auf meinen Fuß fallend bemerkbar. Wie ich mich bückte, um dieNudeln aufzuheben, wurde im Supermarktradio Love More or Less vonMarianne Faithful gespielt. Aus dem Spalt des Glasdaches traf mich eineinzelner Sonnenstrahl und schoss durch meinen Körper. Mir wurde heiß undwellig und ich wusste, Rojda umarmte mich ein letztes wildes Mal. Ich ließalles stehen und liegen, den vollen Einkaufswagen im Gang, die Rigatoni auf demschmutzigen Boden, ich rannte raus, zu ihr. Draußen, überwältigt von derWiedersehensfreude, ein verzweifeltes Glück ist so etwas, brennende Sehnsucht,Lachen und Weinen sind eins, war ihr Licht schon längst weitergezogen.

Das war sie gewesen, ich wusste es, es war meine Cousine.Ihr Licht war den ganzen langen Weg über Kontinente und Ozeane reisend zu mirzurückgekommen, Jahrzehnte hatte sie für den Weg gebraucht. Ich war längst eineerwachsene Frau, sie aber war die von damals geblieben. Bronzefarbene Haut,Augen braun und leuchtend wie Datteln. Ich stand auf einem deutschenSupermarktparkplatz, lief hierhin, dorthin, versuchte ihr Licht zu fangen, abersie war schon auf dem Rückweg. Sie würde eine Ewigkeit zurück brauchen, hinabins tiefe, dunkle Meer, zu den Wellen, die sie verschlungen hatten, runter aufden Meeresgrund.

Die Glocken der Dorfkirche läuten, sämtliche Metaphern fürTod, Übergang und Übergabe sind gesprochen, alle Lieder gesungen, das letzteGebet, Amen. Wir werfen Erde, wir werfen Blumen, die Alten stochern ratlos mitihren Gehstöcken im Gras. Nein, ich höre nichts. Kein Zeichen, weder hier aufErden noch im Himmelreich, alle Wolken sind herrlich blau über uns gespannt.Ich bin nicht enttäuscht. Ich weiß ja, wie es ist.

Sie kommen immer plötzlich, nichtsahnend, man kann es nichtbeschleunigen.

12.04.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 15/2024

Alfons hat ein Ziehharmonikagesicht. Selbst wenn er keine Zweifel oder Bedenken hat, bebt die Stirn in tiefen Falten, die beiden Straßen von seiner Nase zum Kinn sind zwei vertrocknete Flussbetten. Er ist wie eine Ödon-von-Horvath-Figur, inszeniert von Christoph Marthaler an der Volksbühne Anfang der 2000er-Jahre. Alfons Stimme knarzt, als wären seine Stimmbänder alte Dielen. Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, knarrt er, ja Gott, wie geht es einem? Die meisten Menschen lassen sich von dieser Art Antwort, die daraus besteht, die Frage nicht zu beantworten, einschüchtern und hauen sofort ab. Auch deshalb sitzt Alfons oft alleine. Selbst in Familienrunden wirkt er, als hätte er von innen abgeschlossen. Ob er grübelt oder zuhört? Niemand weiß es. Wahrscheinlich nicht mal Alfons, ja Gott, was grübelt man denn so?

Neulich packte mich der Kampfgeist oder irgendein anderes albernes Motiv. Ich sagte, Alfons, du siehst schlecht aus. (Er sah wirklich schlecht aus.) Ich dachte mir, fragste mal so ungehörig intim, penetrant und plump, wie es nur geht. Alfons, was genau fühlst du? Er schaute mich erschrocken aus seinen freundlichen, wässrig blau leuchtenden Augen an und ächzte ungeölt aus seinen Alfonsdielen: Ja Gott, was fühlt man genau? Ich ging nicht weg. Richtig genial war ich. Ich schaute, er schaute. Und kurz bevor ich dachte, nee, das halte ich doch nicht durch, ich verschwinde, nahm er seine knorrige Hand und strich sie über sein von den vielen Bestrahlungen zerfurchtes Krebsgesicht. Ich konnte richtig sehen, wie die Ziehharmonika in glatt aussah, bevor er sein Gesicht losließ und die alten Flussbetten sich wieder bildeten. Alfons hatte offenbar tief in seiner Gefühlslandschaft gestöbert und kam mit diesem tollen Satz empor, der genauso auch aus Kasimir und Karoline oder Geschichten aus dem Wiener Wald stammen könnte. Alfons sagte: Es drückt alles auf die Moral.

05.04.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 14/2024

Er ist es noch und doch ist er es nicht. DieKrankenschwestern haben ihm eine Rose in die gefalteten Hände gesteckt. DerNachttisch ist mit Tüll drapiert und einem grauen Engel aus Stein darauf. VierStunden Zeit, bis sie ihn wegbringen werden. Vier Stunden, uns an den immerkälter immer steifer werdenden Körper zu gewöhnen. Das hier ist eindeutig nichtdas ultimative Ende. Der Körper verfällt vor unseren Augen. Für Zwischenphasenzwischen Anfang und Endgültigkeit kennt das Krankenhaus kein Wort. Ganz klar,das ist allenfalls der Aufbruch in die Ewigkeit. Ich lege meine Hände auf seineOhren, sein Kinn, seinen Brustkorb, seine Beine, seine Füße. Unten ist eswärmer als oben. Ich warte auf eine Regung, ein Zeichen, irgendetwas, das nurich sehen kann. Ich glaube, sein Augapfel rollt, sein Brustkorb bebt.Aufregung.Will ihn zurückrufen.Aber nein, es hatte sich nur jemandam Bettende zu schaffen gemacht, deshalb die Bewegung. Jemand sprichtberuhigende Worte. Schau, er liegt ganz ruhig da. Geh und öffne dasFenster.

Man schaut, man staunt, man schweigt, man weint. Der Tod istein riesengroßes Missverständnis. Er nimmt nicht nur die Toten mit. Sondernauch immer ein wenig von uns. Ich bin hier nur erweiterte Angehörige, aber auchich bin leer und erschöpft. Muskelkater im ganzen Körper. Am Abend im Hoteldusche ich und bestelle ein opulentes Mahl spät in der Nacht. Wir essenschweigend im Zimmer. Finden keinen Trost, keine Worte, keinen einzigen klugenGedanken. Woher die Lust im Wort Verlust kommt, weiß auch kein Mensch.

Ich kann nichts dagegen tun. Nacht für Nacht wandern meineGedanken zu seinem toten Körper. Zentimeterweise nähere ich mich dem Menschseinin der letzten Phase. Gehe ganz dicht ran, traue mich genau hinzuschauen,versuche zu verstehen und auch ein wenig mich selbst ins Bild zu kopieren. Soalso wird es aussehen? Auch ich durchwandele mich. Die erste Woche empfand ichtiefe Sinnlosigkeit, die zweite Woche wilde Verzweiflung, und nun die dritteWoche, ich wasche, putze, poliere. Schade, denke ich immerzu. Schade, dass erging. Schade, dass er nicht mehr wollte. Schade, dass er nicht mehr konnte.Vielleicht geht es uns allen besser, wenn wir ihn endlich beerdigen werden. Ichhoffe auf Zeichen, Erkenntnis, irgendwas, das hilft. Aber hier fährt nur dieStraßenreinigungsmaschine auf und ab.

Heute Morgen lag ich im Bett und ließ den Wind zu. DieVogelstimmen. Den Himmel. Das Fenster weit auf. Kommt, kommt, seid alle mitmir. Auch die Toten. Alle zusammen fliegen wir eine Runde um die Birken. Unddann beginnt der Tag.

29.03.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 13/2024

Vater schickt seinen Newrozgruß. Erst auf kurdisch, dann auftürkisch. Newroz und nevruz. Später wird er auch noch auf Deutsch schreiben.Vater denkt an alle Kinder, Sprachen, Übersetzungen. Irgendjemand in derFamiliengruppe wird auf Englisch antworten.

Was wir uns eigentlich an diesem Neujahrstag sagen wollen, werdenwir uns nicht schreiben können.Mit newroz feiern wir den Frühling und Jahresbeginn. Newroz war und ist immerpolitisch. Meine Grußbotschaft an meine Freunde wird "Hoffnung, Liebe,Widerstand" heißen und "Vergesst nicht den Mut, das Lachen, das Feuer". In der Familiengruppe lasse ich den Widerstand und dieHoffnung weg. Aus dem Feuer mache ich Trost. Aus dem Mut Narzissen undHyazinthen.

Zu newroz lassen sie Leute von der Straße verschwinden. Plünderndie Telefone, spitzeln die Nachrichten durch. Schlucken die Freiheit, alswürden sie ein Glas Wasser trinken. Will nicht schweigen und vergessen und sotun, als gäbe es unser Fest nicht. Als gäbe es uns nicht. Will aber auch nichtgefährden, keinen Ärgermachen. Hilflos senden wir uns Bilder von Blumen in Gelb, Rot, Grün, hin undher. Und erinnern, löscht dieBlumen!

22.03.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 12/2024

Wir stehen beide Punkt Zwölf vor dem Restaurant in Köln, daserst am Abend wieder öffnen wird. Er schaut enttäuscht und auf seine Uhr, dannwieder enttäuscht, dann wieder auf die Uhr.

Es ist eine dieser Situationen, wo man spürt, dass dasfremde Gegenüber eine Antwort braucht, irgendetwas, das bestätigt, dass er mitseiner aufgewühlten Gemütslage nicht alleine ist. Ich bin eigentlich eineMeisterin darin, kommunikative Bedürftigkeiten Dritter zu ignorieren, aberheute habe ich gute Laune und also spreche ich: "Bis 17 Uhr sind es wohl nocheinige Minuten". "Nein", sagt er, "es sind noch fünf Stunden". Ich bereue meinkaritatives Gesprächsangebot auf der Stelle und will weitergehen, aber seinBlick lässt mich innehalten. "Ich wollte mich hier bewerben", sagt der enormstilvoll gekleidete Mittedreißiger, sein Mantel ist aus schwerer Wolle gewebt,und seine Loafer (an sich das albernste Schuhwerk der Welt) sehen an ihmfantastisch aus. "Ich habe einen bemerkenswerten Lebenslauf", erzählt erweiter, "an sich bin ich für so was hier", er quirlt mit der Hand vor demRestaurantschild, "absolut überqualifiziert". Sein Ton ist ernst, nullironisch, auch Posertum kann ich nicht erkennen. Im Gegenteil, die Art, wie erseine Vorzüge herunter referiert, ist ungewöhnlich nüchtern. Ich wünsche ihmviel Glück und gehe weiter.

Ich möchte zurück ins Hotel, am Abend habe ich eine Lesung,und ich beschließe, vorher einem Imbiss auf mein Zimmer zu bestellen. Ich geherechts herum, links herum, die kleine Gasse runter, und am Anfang denke ichnoch, dass ich es mir sicher einbilde, aber wie ich erneut abbiege undweiterlaufe, merke ich, er läuft hinter mir her. Ich brauche mich nichtumzudrehen, ichweiß, dass er es ist. Ich gehe in Gedanken unserkurzes Gespräch durch und erinnere mich, ihm gesagt zu haben, dass ichTouristin sei. Ich wollte ihm damit klarmachen, dass ich kein Jobangebot fürihn habe. Nun befürchte ich, dass er mich verfolgen und umbringen wird. Auchmeine Kleidung ist von erlesener Qualität, meine Schuhe frisch besohlt, Kennerund Gauner erkennen solche Zeichen, sicher vermutet er, größere Bargeldreservenbei mir zu finden.

Ich laufe schneller, und auch seine Schritte beschleunigen,in dieser Gegend gibt es nur das feine Hotel Wasserturm, das zur Hilton-Gruppegehört, zwar ist es taghell, aber niemand auf der Straße, dem ich mitauffälligem Augenrollen und dieser Handbewegung, dem internationalen Zeichenfür "Rufen Sie Hilfe! Ich bin ein Opfer!", signalisieren kann, dass ich inhöchster Lebensgefahr schwebe. Gerade so erreiche ich das Hotel und falle demerstaunten Concierge in die Arme, als mein Verfolger an mir vorbeigeht. Wiedermit diesem seltsamen Blick, einer Mischung aus purer Fokussierung und etwasirre.

Er läuft zur Rezeption, eine Mappe, dick wie ein Katalog, inder Hand. "Ich bin hier für ein Bewerbungsgespräch", sagt er, und die Dame ander Rezeption fragt ihn, ob er deshalb einen Termin mit jemandem aus dem Haus habe."Nein", sagt er, "so jemand wie ich ist ein Glücksfall, kein Termin". "Aha",sagt die Rezeptionistin etwas verunsichert, "als was wollen Sie sich dennbewerben?". "Als Manager", sagt er, "ich kann sofort beginnen". Die Frau amTresen, ich, der Concierge und alle, die es mitbekommen haben, sind absolutverblüfft. Ein kurzer Moment des Schweigens entsteht, dann präzisiert er seineAngaben auch dort noch einmal, "ich bin eigentlich überqualifiziert". Niemandlacht, auch ich nicht, denn wie vorhin, vor dem Restaurant, ist etwas an ihm,das einen innehalten und zuhören lässt. "Moment", sagt die Frau, "ich rufejemanden".

Auf dem Weg zum Fahrstuhl bin ich mir sicher, dass etwasgewaltig nicht mit ihm stimmt. Aber ich bin mir auch sicher, dass er mit dieserMethode Erfolg haben wird. Irgendwann, irgendwo.

15.03.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 11/2024

Nun endlich besucht der Frühling das Jahr. Man merkt esdaran, dass an der großen Kreuzung in Berlin Prenzlauer Berg die Jongleurestehen. Während der Rotphase stellt sich ein Artist vor die Ampel undwirftdrei Keulen in die Luft. Natürlich landet, wie alle Frühlinge zuvor,keine einzige wieder in seinen Händen. Schnelles Einsammeln der Jonglierkeulenvom Asphalt, kurze übertrieben knackige Verbeugung vor dem Publikum, dann läufter rasch los, um die Gage an den Autofenstern einzutreiben. Die Autofahrerdrücken auf ihre elektrischen Fensterheber, damit die Scheiben rechtzeitig obensind, bevor der Künstler seine offene Hand reinsteckt.

Das hier ist Berlin. Hier müsste man während der Rotphaseeine Operation am offenen Herzen zeigen, um Interesse zu ergattern. (Knetewürde trotzdem niemand spendieren. Dazu müsste die OP von einem blinden Pudeldurchführt werden, damit hier einer was springen lässt.)

Nach den Eisheiligen kommt die eigentliche Attraktion. Dannwird ein anderer Jongleur auf der Kreuzung stehen. Sobald die Ampel auf Rotschaltet, schnallt er vor den Augen der Autofahrer seine Beinprothese ab undbeginnt einbeinig zu jonglieren. Meistens mit Reis gefüllten Stoffbällen. Aucher – natürlich! – kann nicht jonglieren. Mühsam kriecht er Mai für Mai mitseinem Stumpf über den Asphalt und hebt theatralisch die Bälle auf und die Armein die Höhe, "es hat nicht sollen sein".

Das kann das Berliner Publikum natürlich gar nicht gutleiden. Die ganze Bein-dran-Bein-ab-Aktion weckt natürlich gigantischeErwartungen. Es wird mit Lichthupe gebuht und manch ein Trucker ruft genervtvom Bock herab "Zisch ab Du Vogel!". Dem einbeinigen Artisten macht das nichtsaus. Er humpelt stoisch die Autos ab, in der Hoffnung, Kasse zu machen.Dennimmer gibt es diese eine Person, die wahrscheinlich Sozialpädagogikstudiert hat und attestiert, dass er "ditt janz janz toll jemacht hat", richtigdufte, "wie Sie sich nicht unterkriegen lassen", und 2 Euro zahlt. BerlinerFrühling. Violette Krokusse, jonglierende Dilettanten. Es geht jetzt langsamlos.

08.03.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 10/2024

Alle Bücher stehen durcheinander. Die Regale lehnen an der Wand, man müsste sie endlich festschrauben. Nun ist es schon die so-und-so-vielte Wohnung, und immer noch habe ich kein Zuhause. Bleibe eine schlechte Wohnerin. Überall auf der Welt klappt das Glück besser als an der Meldeadresse. Die Gäste sind begeistert vom Einrichtungsstil, dessen Konzept schnell beschrieben ist: bloß nichts besitzen, und schon steht das Wenige erlesen herum. Der Lebenskrempel will einfach nicht zu alter Verbundenheit werden. Ziehe mit Tasche von Ort zu Ort. Sesshaftigkeit ist selten mehr als ein Raum mit einer Magnettafel, wo noch eine Überweisung zum Facharzt von vergangenem Sommer hängt. Der Lebensmittelpunkt als letzter Grenzposten, hinter dem Träume, Abenteuer und Expeditionen längst zu einem Besteckset für zwölf Personen aus 925er Sterling Silber und einem Stapel Gasrechnungen wurden. Es gilt sich immer wieder neu zu entscheiden. Bleiben und leben. Oder Aufbruch und Schreiben. Das ist eine Frauenfrage. Sie entscheidet über das Innen und Außen oder Drinnen und Draußen. Innen ist ein Zustand, Drinnen nur ein Ort. Diese Abzweigung ist nicht neu. Drängelt und nervt gelegentlich nur immer mal als Entscheidungskrise zwischen den Umzugskisten hervor. Als gäbe es eine Wahl. Also wirklich!

01.03.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 09/2024

Yalancı bahar, erklärt Vater mir das Phänomen, das Rosen viel zu früh knospen, und auch alles andere Wochen zu früh grün herausschießen lässt. Der falsche Frühling tut nur so, als ob. Es werden noch die späten Februarwinde vom Meer erwartet. Bis zum April werden sie die Böden kühlen. Alles, was bis dahin grünte, wird dahin sein.
Die Welt wirbelt falsch herum, versucht Vater sich in Wolkenkunde. Dann legt er auf. Er wird nun seinen Korb nehmen, es ist Sonntag, er will zum pazar. Es gilt die brüksel lahanası nicht zu verpassen, den Brüsseler Kohl, den er noch aus Deutschland kennt und so sehr mag. Wie er wohl mittlerweile aussieht, der alte baba, der mit seinen kleinen, braunen Händen jeden Rosenkohl am Marktstand einzeln inspizieren und hoffen wird, dass ihn eine ägäische Hausfrau anspricht und fragt: Mein Herr, wie bereiten Sie es zu? Er kann dann antworten, meine Dame, ich blanchiere ihn und anschließend serviere ich ihn in Butter geröstet mit knusprigen Mandelblättern. Dann wird er sich erinnern, dass Inflation herrscht, und nachschieben: Man könnte auch alte Brotbrösel knusprig braten, das schmeckt noch köstlicher. Die Mandeln aus der vergangenen Ernte taugen ohnehin nichts. Das sind gerade seine Themen. Das Wetter, die Preise auf dem Markt, die ganze kleine Welt der großen Sorgen.

23.02.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 08/2024

Dort, wo ich oft dran denke, zünden die alten Männer ihre Zigaretten noch mit Streichhölzern an. Dabei streichen sie das Zündholz nicht etwa im ausholenden Bogen, als würden sie Geige spielen, sondern wischen rasch und kurz über das Zündblatt und beugen sich dann mit der Kippe im Mund in die halb geöffnete Faust. Verharren einen Moment und machen ein paar Probepaffer. Das Streichholz werfen sie beiläufig, aber lässig von sich, richten sich auf und klopfen eventuell ein paar Tabakkrümel vom Breitbandcord oder der fein gestreiften Wollhose. Diese Herren, sagte ich schon, dass es alte, uralte Männer sind?, sehen im Gesicht wie faltiges Atlasgebirge aus. Genauso einen amca sah ich auf dem Ku’damm, vor Yves Saint Laurent, wie er seinen otobüs verpasste und sich die Wartezeit mit seiner sigara verkürzte. Er trug gebügelte Heimat und bewegte sich wie Vergangenheit.

16.02.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 07/2024

Die Kollegin aus dem Theater sitzt mirgegenüber. So oft hatten wir uns verabredet, verschoben, aus den Augenverloren. Nun endlich ein Abendessen in einem schönen Lokal. Wie ist es Ihnenergangen in den letzten Jahren? Was man so fragt, um locker in den Abendeinzusteigen. Sie denkt nicht lange nach und beginnt. Den Vater habe sieverloren. Allein in einer Essener Nacht sei er verstorben. Drei Geschwisterseien sie. Und keiner war anwesend. Im Krankenhaus lag er, während sie alle inder Welt unterwegs waren. Sie habe nicht gewusst, nicht geahnt. Weil er dochdie Chemo immer ambulant bekam. Aber dieses eine Mal baten ihn die Ärzte überNacht zu bleiben. Er starb. Er starb. Sie stockt, erzählt von vorn, bricht abund beginnt erneut. Archäologische Grabung nach den richtigen Bildern undVergleichen. Jedes Wort wird sorgsam abgepinselt und ans andere gelegt. DenSchrecken sprechbar machen. Die Lücke ausformulieren. Die Schuldgefühle, dieTrauer, die offenen Fragen. Er starb. Die Jahre andauernde Trauer zieht sichwie ein grauer Faden durch ihr Leben. Der Abend ist herrlich. Wir scherzen, wirlachen, wir schweigen. Weil es so ist. Das sogenannte Leben.

09.02.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 06/2024

Noch einmal die Allee entlanglaufen, wo das Licht eine Schneise durch die Kronen bildet und ein Schwarm Vögel in die Luft hinaufwirbelt. Noch einmal ins Becken gleiten und ein paar Bahnen schwimmen. Noch einmal über die Felder blicken und am Friedhof vorbeiradeln und wissen, dass es ab hier noch zweiundzwanzig Minuten bis nach Hause dauert. Noch einmal in das Vorvorgestern hinabsteigen, wo die Kindheit in Kapiteln beschrieben fein säuberlich in die Gedanken gelocht und abgeheftet ist. Wo Mutter schimpft, weil die Wäsche noch nicht aufgehangen wurde, und Vater sich schützend vor uns stellt. Wo Mutter in die Schule geht und uns den Weg mit einer Machete durch das Dickicht von Vorurteilen frei schlägt, und Vater meint, ein gemeinsamer Besuch in der Eisdiele sei auch wichtig fürs Leben. Aber dann ist auch gut. Zwinge mich im Hier weiterzumachen. Hier müssen noch ein Dienstag und Mittwoch und Donnerstag bewältigt werden, das Wochenende und folgende.

02.02.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 05/2024

ImNetflix-Account des Geschwisters gestöbert. Viele Dokumentationen überspektakuläre Höchstleistungen von Sportlern entdeckt. Außerdem Ernährungsformenund ihre Auswirkungen auf den Körper. Spielfilme über Bergsteiger, Berge, oderLawinenunglücke. Passt zu ihm. Er muss immerzu lernen, sonst langweilt er sich.So war er schon als Kind. Ging auf Mückenjagd. Dazu wickelte er sich eineTüllgardine um Gesicht und Körper, ließ einen winzigen Spalt frei, aus dem diedunklen Kulleräuglein mit dem bunten Kassenkinderbrillengestell herausschauten.Er bewaffnete sich mit einer Schachtel, einem Spatel und einer Lupe und suchtedie Wände nach den Tierchen ab. Wenn er eine gefangen hatte, untersuchte ersie. "Ich bin Mückologe!", stellte er sich mir wichtigtuerisch vor. "Schlag sietot, mach das Licht aus und leg dich endlich schlafen!" Es war mitten in derNacht, ich warf mit einem Hausschuh nach ihm.

Erbaute den Toaster auseinander und bekam ihn nicht wieder zusammen. "Papa", sagteer entschuldigend, "Edison hat die Glühbirne auch erst nach vielenFehlversuchen erfunden". "Oğlum", wagte Vater einigermaßen verzweifelt einenErziehungsversuch auf Deutsch, "Toastmaşin gibt schon, warum nochmal Erfindungmachen du, mensch?!" Jedes Tier musste gefangen und begutachtet werden, jedesneue Elektrogerät durch seine Hände gehen. Am liebsten koppelte er Geräteaneinander. Vater bettelnd: "Oğlum, nix bitte fummel mit Gabel in Elektro."Seine ganze Kindheit ging uns der Klugscheißer mit seinen Forschungen auf denGeist.

ImNetflix-Account aber taucht nun eine Sache auf, die so gar nicht zu ihm passt.Die Bergdokus und alles andere, stehen ganz hinten in seinem Verlauf. Was eroffenbar regelmäßig konsumiert, sind Kaminfeuer. Knisterndes Kaminfeuer mitBuchenholz hat er sich sage und schreibe eine Stunde und zwölf Minutenreingezogen. Ich habs natürlich überall herum erzählt. Die Familie liegt vorLachen am Boden.

26.01.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 04/2024

In Spandau im Bus zögere ich, bevor ich mein Fahrticketentwerte. Laut frage ich in die Menge: "Gehört Spandau noch zur AB-Zone?". Fürdie Tarifzone C hätte ich nämlich nachlösen müssen. "Bei Ihnen piept‘s wohl!",ruft mir ein Fahrgast entgegen. "Wie bitte?", rufe ich konsterniert zurück."Ick sach, bei Ihnen wohnt wohl‘n Piepmatz unter der Haube!", wiederholt derFahrgast. Die Menge, lauter Omis und Opis,johlt.Ich schauehilfesuchend zu einer alten Dame, die mir kopfschüttelnd ihre Solidaritätverweigert. Spandau, klärt mich einer aus der aufgebrachten Menge auf, liege"mitten im Berliner Zentrum". So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehrgehört. Ich bin nicht bereit zu kapitulieren, "im Zentrum?", entgegne ich,"wenn man aus dem Weltraum drauf schaut, oder was?" Die Fahrgäste bilden einenKreis um mich. "Spandau ist alles", sage ich, "aber nicht das Zentrum vonBerlin". Dass ich überhaupt in Spandau gelandet bin, hat nur damit zu tun, dassman anderswo in Berlin keine Termine mehr für ein MRT bekommt. Für Spandau mussman eine Stunde Fahrzeit berechnen. Egal, von wo aus in Berlin man losfährt.Aber das behalte ich alles für mich. "Watt denken Se denn, wo Se sind, wennditt hier nich mehr Berlin is?", fordert mich ein Opi zum Duell auf. Ich nehmetief Luft und sage: "Sie kennen doch alle das Sprichwort: ‚Der Apfel fälltnicht weit vom Stamm‘. Spandau ist die Birne". Glücklicherweise hält der Bus.Ich steige aus. Alle grauen Stare sind auf mich gerichtet, ich spüre das. Ichgehe betont aufrecht, langsam und mit Würde. Ich fühle mich wie eineWiderstandskämpferin mit "Nie wieder ist jetzt"- Attitüde.

19.01.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 03/2024

Francesco heißt der Klempner, der dieHeizungen richten soll. Er ist klein und drahtig, seine Schuhe zieht er an derHaustür aus. Francesco verschafft sicheinen ersten Überblick. Er geht durch die Räume und erklärt: Hier neue Ventile, da ist dasThermostat defekt. Was den geringen Warmwasserdruck betrifft, "werde ich nachher eine Tiefenbohrung machen". Ich habe es seit meinem Umzug ständig mit Handwerkern zu tun. Mittlerweile weiß ich, dass sie ein anderesDeutsch sprechen als ich. Die Wasserleitung ist "zugesetzt", meint, die Leitung istverstopft oder verkalkt. "Ja gut, hier muss man schauen"heißt "ich habe keine Ahnung". Und "das bedeutet aber einenerheblichen Mehraufwand und Kosten" soll sagen "absolut keinen Bock drauf, das zu machen". Einmal sagte mir der Fenstertyp "ja klar, kann ich das Fenster reparieren, aber ich kann nicht garantieren,dass es hinterher auch wieder schließt". So ein Satz ist absolutes Dada,ein Sprachkunstwerk.

Tiefenbohrungalso, ich bin gespannt. Wie jeder Handwerker hat auch Francesco kaum Werkzeugund keine Leiter dabei. Macht nichts, ich habe für jedes Gewerk die passenden Werkzeuge parat und auch eine Leiter. Ichassistiere Francesco, bringe die Leiter, helfe ihm rauf, halte sie. Er sagt,die Therme müsste eigentlich mit Wasser aufgefüllt werden, aber er habe keinen Schlauch dabei. "Kein Problem", sage ich, "ich habe den Schlauch und auch die passenden Gewinde". Ich ermahne ihn,bloß keine Luft ins System zu pumpen. Er lacht. Dann fragt er, wo derWarmwasseranschluss ist. Ich erkläre,"diese Therme erwärmt das Wasser, es gibt deshalb nur einenKaltwasseranschluss". Er will ihn in der Küche abdrehen, obwohl er im Badezimmer an der Armatur wasregeln müsste. Ich sage "Francesco, kommen Sie, wir gehen ins Bad und drehen dortab". Wieder lacht er sich kaputt. "Sie sind wohl vom Fach?", juxt er. "Nein, nein", winke ich ab, "ich habe absolut keine Ahnung". Das habe ich mittlerweile begriffen, man darf einem Handwerkernie das Gefühl geben, Bescheid zu wissen.Manchmal erfinde ich einen Ehemann, der dann angeblich gemeint,vorgeschlagen oder vermutet hat. Das funktioniert ganz gut. Die Handwerkersagen dann "Stimmt, auch 'ne Idee".

Francescozeigt mit dem Finger zum oberen Türrahmen und an die Decke im Flur,"hier laufen die Wasserleitungen lang". "Ach so?", sage ich scheinheilig, "mein Mann meint, hier laufen die Leitungen lang", ich zeige mit dem Zeigefinger auf den Boden. Francesco schautin den Abfluss. Sehr lange und nachdenklich. "Francesco, was machen Sie?", unterbreche ich ihn. "Ich mache gerade eine Tiefenbohrung", antwortet er. "Aha", sage ich, "für mich sah es wie Grübeln aus". Francesco klopft mit derFußspitze gegen die Wanne, lässt Wasser laufen und sieht demWasser hinterher, wie es abfließt. Ich sage "Francesco, ich will nicht stören, aber es ist gibt kein Problem mit dem Ablauf, sondern dem Zulauf". Ganz schnell schiebe ich hinterher: "Vermutet mein Mann!".

Francescodreht sich zu mir um, "Sie fragen sich bestimmt, woherich komme". "Eigentlich nicht", antwortete ich zögerlich, aber ich tue ihm den Gefallen, "aus Berlin?!" "Nein, nein!", insistiert er, "Was glauben Sie, woher icheigentlich komme?". "Sizilien?!" Francesco strahlt über das ganze Gesicht, "Richtig!!". "Okay. Schön. Was bedeutet das für den Warmwasserdruck?". "Da habe ich leider sehr schlechteNachrichten für Sie. Das zu beantworten,bedeutet einen erheblichen Mehraufwand und Kosten. Man müsste hier alles aufreißen", er wedelt mit der Hand im Badezimmer, tritt raus auf den Flurund wedelt auch dort. "Verstehe", sage ich.

Wirverabschieden uns, ich drücke ihm einen Zehner ("für die Kaffeekasse") in die Hand und er winkt noch sehr süß sizilianisch mit halbangedeutetem Handküsschen.

12.01.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 02/2024

Das neue Jahr hat begonnen,eiskalt weht es durch den Affenkäfig auf dem Leopoldplatz. Ursprünglich wurdeder Bretterverschlag für die Säufer und Penner gebaut, sie haben ihn Affenkäfiggetauft. Die Idee dahinter war, dass die Trinker sich dort sammeln und saufen,derweil auf der Wippe nebenan die Kinder eine unbeschwerte Kindheit erleben.Soziales Platzmanagement nennt man das. Die Trinker, so der Plan, würden sichaus Scham vor den Kindern eleganter benehmen. Hat das eigentlich irgendwo inDeutschland funktioniert? Dass ein Park, in dem Drogenkonsum oder Alkoholismusstattfindet, gleichzeitig eine sichere Erholungsstätte für Anwohner ist? Nachden Trinkern kamen die Schwerstdrogenabhängigen. Das war selbst für die Säuferso krass, dass sie verängstigt abzogen.

Drogensucht ist ein Business, eineVollzeitbeschäftigung. Die Abhängigen müssen schnorren, streiten, sichprostituieren. Würde man sich hier – wirklich sehr theoretischesGedankenexperiment – eine Viertelstunde lang auf einer Bank im Park aufhalten,sähe man Junkies, die irgendwelches Zeug drücken oder rauchen, das sie sofertig macht, wie man es nie für möglich gehalten hätte.Ein paar Meter weiter steht eine öffentlicheToilette, auf der manchmal Männer Drogensüchtige schlagen oder bei offenen TürenSex machen, und einen halben Meter daneben stehen Kinder und warten auf denBus, der sie nach der Schule nach Hause bringt. Der Platz stinkt bestialischnach Exkrementen und Pisse. Immer läuft irgendwer mit Hose runter, Arsch oderGlied raus mit Geld in der Hand zum Dealer und kauft, um sich umgehend von derQual zu erlösen. Man könnte dieBushaltestelle verlegen, aber das ist der Wedding, die Ausländerquote ohneWahlrecht liegt hier wahrscheinlich bei hundertachtzig Prozent, und die Abhängigensind meistens auch nur Araber, Afghanen, Syrer. Hier braucht sich Kai Wegnernicht wichtig machen. Sind nicht nur nicht seine Wähler, sondern nicht malseine Bürger, dieser Bezirk ist allen so egal, noch egaler kann man einer Stadtnicht sein.

Wenn man hier leben will, muss mansich aktiv dafür entscheiden, dass man mit ungelenken Schritten und Sprüngen überdas menschliche Elend auf dem Trottoir stolpert und dabei eiskalt bleibt. Sonststirbt man als normal denkender und fühlender Mensch mit diesen Elendsgestaltenmit. Mit brodelndem Herzen und Menschenliebe kann man das nicht aushalten.

Es ist die erste Januarwoche, Windund Kälte wehen über den Platz, jetzt regnet es auch noch, die Junkies strömen aus allen Büschen und Ecken in den Affenkäfig. Er istwinzig, sie stehen barfuß oder mit offenem Hemd, stinkend, eingepisst undeingeschissen, Schulter an Schulter. Sie stehen ungeschützt, keine Mütze, keinSchal, einer schaut beseelt in die Luft, ganz komisch, denke ich, keinerschreit, keiner haut dem anderen auf die Glocke. Da stehen sie, eine so elendkaputtgedröhnte Schicksalsgemeinschaft von Gott und der Weltverlassener Seelen, von allen vier Seiten regnet es stechenden Eiswind undUngerechtigkeit auf die gelben Hepatitiskörper. Sieerinnern an Pinguine, die eng beieinander stehend ihre gefiederten Körper wärmen, gelegentlich watscheln die aus der Mittenach außen, sodass jeder einmal im wärmenden Zentrum stehen kann, und auch imAffenkäfig formiert sich die Gruppe immer wieder neu, wenn einer nach außentorkelt oder fällt. Ich muss lachen, weil es so reibungslos funktioniert, undich muss schlucken, weil ich nicht fassen kann, dass die Menschen um denLeopoldplatz diesen Dreck und Scheiß ertragen müssen und niemand von denpolitisch Verantwortlichen sich für diese in Raten sterbenden Menscheninteressiert. Wer das alles nicht glaubt, möge den 147er bis zur Endhaltestelle fahren und sich das politische Vermächtnisder regierenden Parteien dieser kaputten Stadt anschauen. Wer sehen will, wieverlogen Politik sein kann, soll kommen und schauen. Affenkäfig als Konzept.Nie aufhören, mit dem Finger drauf zu zeigen. Nie aufhören, "Leopoldplatz" zu rufen, wenn wieder ein Bürgermeisterdas Wort Sicherheit in den Mund nimmt. Neujahrsvorsatz: nie aufhören, davon zu erzählen.

05.01.2024 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 01/2024

Frisch aus dem Krankenhausentlassen, liegt die hala auf dem divan und macht üüüf, üüf, üff. IhreAtemtechnik ist sagenhaft, sie seufzt so gekonnt, die ganze mahalle kann ihrGestöhn und Geächz hören. Aufder Leberstation in Malatya hatte sie ihr Bestes gegeben und es allen so schwerwie möglich gemacht. Dem Krankenhauspersonal gegenüber warsie ungerecht, hatte jedenRat ihres operierenden Arztes ignoriert,hatte ihre erwachsenen Kinder des Mordversuches an ihr bezichtigt und mit einerZeitung, einem Puschen und der Medikamentenbox nach ihnen allen geworfen. Allesund jeder ist tausend Mal beschimpft, beleidigt, verdammt und verflucht worden.

Hala schaut die Kommode an, dieKommode schaut mitleidig zurück. Ebenso die Gardinen, der Kühlschrank, dieHochzeitstruhe. Alle Ecken des Hauses flüstern: Du bist allein, du bist allein.Turhan ist im Mai gestorben. Sie war ja fast noch ein Kind, als sie heirateten.Die letzten zwanzig Jahre waren die schlimmsten und schönsten. Er war dement, lag fast nur noch auf dem divan, da wo jetzt diehala liegt. Ihr hat das nichts ausgemacht. Klar, sie hat gejammert undlamentiert, aber tief drinnen war es ihre Liebe, ihr Leben, das da lag und sieschon längst vergessen hatte. Oft kam eines ihrer Kinder und sagte: "Anne, sokann es nicht weitergehen, der Vater braucht eine zusätzliche Pflegerin, dumusst doch auch mal eine Nacht durchschlafen".

Wie in einem Gefängnis lief diehala mit einem großen Schlüsselbund durch das Haus und schloss den ganzenlieben Tag lang die Türen auf oder zu. Ihr Turhan büxte sonst nämlich aus.Abends saßen sie auf dem Teppich, und sie schälte ihm Apfelsinen oder knackteWalnüsse. Im Sommer schälte sie ihm Gurken und dippte sie in Salz, im Herbstbekam er Maulbeeren. Abend für Abend, jahrzehntelang. So wie sie es tat, hätteniemand auf Turhan aufpassen können.

Mit diesem Mann hatte sie vierKinder gezeugt (alle missraten, aber egal), mit diesem Mann hatte sie dieSchlachterei aufgebaut und ein Vermögen angehäuft (daser verspielte), mit diesem Mann hatte sie sich ein Leben lang kaputt gelacht(oder sich zu Tode über ihn geärgert). Im Mai schlug sein Herz ein letztes Mal,sie war nur kurz im Garten, wollte etwas Salbei schneiden, denn sie hatte amMorgen gesehen, dass er eine kleine Entzündung am Mund hatte. Mit dem Salbei inder Hand stand sie an der Türschwelle und sah sofort, dass etwas nicht stimmte.Er hatte die Augen geschlossen, lag mit dem Gesicht zur Tür geneigt, einausgestreckter Arm, eine offene Hand. Wie als hätte er gerufen, komm schnellzurück, elveda sagen, ich werde weiterziehen.Die hala schrie die Wändezusammen, die Dachbalken, die Wolken. Sie schrie und schrie und schrie. Inihren Händenverströmte der vor Verzweiflung zerquetschte und zerriebeneSalbei seinen würzigen Duft im Raum.

Sakine hanım von nebenan, auchschon dreihundertsechzig Jahre alt, versuchte die hala zu trösten, sieh es doch so, sagte sie, du kannst nun imFernsehen schauen, was du willst. Ach Sakine, halt doch die Klappe, regte sichdie hala auf. Dein Ehemann war so dumm, wenn der Fußball ins Abseits flog,schaute dein Schwachkopf neben den Fernseher, ob der Ball dort gelandet war.Mein Turhan und ich schauten immer Tierfilme. Wir haben nie über dasFernsehprogramm gestritten. Natürlich wusste sich Sakine hanım zu helfen undschlug zurück: Dein Turhan war die letzten zwanzig Jahre eine kompletteMatschbirne, wenn er einen Schimpansen in der Glotze sah, reichte er ihm eineBanane. Na und, blaffte die hala zurück, er liebte halt Tiere. Deiner liebtedie Nachbarin. Ach halt doch die Fresse, sagte Sakine hanım, du musstest deinenTurhan einsperren, damit er nicht abhaut. Weißt du noch, das eine Mal, giftetedie hala, als er dich sah, Sakine, da hat er dir auch eine Banane gereicht. Derhala war eigentlich nicht zum Lachen zumute, aber sie konnte nicht an sichhalten und lachte lange und laut, und auch Sakine hanım hat gegen ihren Willenetwas lachen müssen.

Eines Abends kommt halas Enkel,sehr süß, erst vier Jahre alt, und fragt die hala, was sie glücklich machenwird. Da erst wird ihr bewusst, dass es nichts gibt, was ihr Trost geben würde.Oder Lust auf morgen. Ein fertig gelebtes Leben liegt hinter ihr. Sie hat esausgiebig leer gelebt. Hier ist einfach Schluss für immer. Und dieseErkenntnis, fertig zu sein, mit allem, befreit sie so sehr, dass sie denkleinen Jungen auf den Schoß nimmt und ihm zuflüstert, versprich mir, dass dudir ein richtig schönes Leben machen wirst. Der kleineJunge nickt. Und hala geht schlafen. Sie würde nun auch nicht mehr abschließen.

29.12.2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 522023

Seit vier Tagen liegt die operierte hala bewegungslos im Bett und weigert sich zu genesen. Will nicht essen, will nicht trinken, will nicht kooperieren. Noch nimmt ihr niemand die strikte Weigerung krumm, ans Vorher anknüpfend weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Haare kämmen, Gesicht waschen, Tee trinken, dann dem Doktor dankbar um den Hals fallen, das sind die ersten Schritte nach einem gelungenen Eingriff, aber meine hala tickt anders. Was ist schon eine erfolgreich überstandene Operation im Dinosauerieralter, für die sich deine vier erwachsenen Kinder vor allen möglichen Leuten in den Staub warfen und sich erniedrigten und Tausende von Lira hinblätterten, wenn das Leben an sich eine einzige Katastrophe ist? Was bringen ein oder zwei einigermaßen in Ordnung geschriebene Kapitel in einem an sich beschissenen Buch? Jetzt mal wirklich und ehrlich unter Freunden bilanziert: Was bringt ein Arzt, der über tausend Lebern erfolgreich operiert hat? Sterben dafür jetzt weniger Kinder in Afrika? Kommt Regen über die Felder, wenn man ihn braucht? Weht der poyraz, dieser schlimme Ostwind, wie wenn Gott eiskalt aus den Wolken runter pustet, dieser Wind, der einem tagelang die Birne von innen zuklebt und den Nacken hart wie Beton macht, nicht mehr? Na und, dann hat er eben seine Lebern erfolgreich geschnetzelt. Soll meine hala jetzt deshalb ihren Katheder unter dem Operationsfummel rausziehen, eigenständig aufs Klo gehen und pinkeln, und tanzen und jubeln? Lächerlich!


Acht Tage vergehen, die hala bewegt sich immer noch nicht. Elf Tage, zwölf Tage. Hala im Liegeprotest. Sie bestreikt das Leben. Da platzt meiner Cousine Fatoş der Kragen. "Anne", sagt sie, "ich verfluche den Tag, als wir dich einsammelten und zum Arzt brachten." Fatoş ist Oberschwester im Kreiskrankenhaus in Bingöl, und sie hat schon jede Sorte Patient in ihrem Leben gehabt. Weinerliche Jammerlappen, wütende Arschgeigen, sterbende Kinder, die mit einem letzten, lieben leeren Blick die Äuglein schlossen, und ihre kleinen Finger wurden langsam kühl, und das sind Momente, da begreift man das Leben nicht als Geschenk, sondern als Bürde. Aber sowas wie die hala ist selbst für sie und das Personal in der renommierten Leberklinik in Malatya einmalig und ihr natürlich besonders strunzpeinlich. "Anne", sagt sie, "dann tu uns den Gefallen und stirb!"


Fatoş erzählte später meinem Onkel Arif, und der dann meinem Vater, und der dann mir, wie immer sonntags um 12 am Telefon, dass die hala ihren Mund, so schien es ihr, noch ein klein wenig mehr verkniff als sonst. Und sowas ist doch ein Zeichen der Hoffnung, oder nicht? Dr. Ibrahim indes kam jeden Tag und setzte sich ein, zwei Minuten an halas Bett und sagte immer den gleichen Spruch: "Ich halte das aus, aber die Frage ist, wie lange hältst du das aus?" Und einmal, da holte er aber den ultimativen Hammer heraus, da stand gerade so eine manikürte Tussi aus der Verwaltung im Zimmer herum, und da sagte Dr. Ibrahim ganz leise, aber nicht so leise, dass die hala es nicht hören könnte: "Filiz hanım, haben wir hier schon die Zwischenrechnung gemacht? Mit Inflationsaufschlag, bitte." Dann verließ er den Raum. Und das muss so um den siebzehnten oder achtzehnten Tag herum gewesen sein, da hat die hala sich als Zeichen der ultimativen Empörung das erste Mal selbstständig bewegt. Sie drehte sich zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand und dem Arsch zur Welt. Ihr kleiner Körper bebte unter dem dünnen Laken, so petzte es Fatoş später in die Telefonkette, jeder Atemzug, den hala nahm, war so tief und lang und voller Verachtung, als würden ihre Lungen beim Einatmen und Ausatmen das Krankenbett im Raum hin und her rollen. Gewaltige Luftstöße müssen das gewesen sein, eisiger als poyraz, furchteinflößender konnte nicht einmal Gott aus den Wolken pusten. Kein Zweifel, hala begann das Leben auf ihre Art zu begrüßen und zu feiern, indem sie schon einmal begann, es ein klein wenig zu hassen.

22. Dezember 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 51/2023

Zwischen meiner hala und Dr. Ibrahim ein Hin und Her an Worten. "Bleib auf meiner Station", sagte er zu ihr. Sie ist alt und sehr krank, aber in einem bemerkenswert vitalen Zustand. Er sieht das, jeder sieht das. "Geh‘ nicht", sagte er zu ihr. "Warum?", fragte meine hala. "Hast du dich in mich verliebt?" Die Sprüche und Prolligkeiten meiner hala, das muss man verstehen, und Dr. Ibrahim verstand das, verschaffen ihr Zeit. Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass sie kurz vor Lebensschluss doch noch einmal aufgeschnitten wird. Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass sie Turhan enişte noch nicht folgen darf.

Die Leberkoryphäe hat es nicht leicht mit meiner hala. Niemand hat es leicht mit meiner hala. Eigentlich hat Dr. Ibrahim es nicht nötig, seine Patienten zur Behandlung zu überreden. Aus ganz Ost- und Zentralanatolien reisen die Kranken an, um einen der begehrten und kostbaren Termine bei ihm zu erhalten, aber meine hala benimmt sich, als müsse der Arzt sich bei ihr bewerben. "Anne", versuchten meine sich zu Tode für ihre Mutter schämenden, erwachsenen Cousinen und Cousins sie zur Vernunft zu bringen, "mit deinem Schandmaul riskierst du, dass er uns rauswirft". Aber er warf sie nicht raus. Dieser uralte Griesgram, dieser vor Schmerzen ausgedörrte Stinkstiefel, begann ihm zu imponieren.

Die Leberkoryphäe bat meine hala, die Intensität ihrer Schmerzen zwischen 1 und 10, also von ganz leicht bis unerträglich, zu beschreiben. "Was soll das pisko?", pampte sie. Für meine hala gilt der gesamte Themenkomplex rund um Empfindungen als psychopathisch. Nur piskopatlar, Triebtäter, haben Gefühle und sich nicht im Griff. Meine hala kommt aus einer Zeit, als man Frauen dazu erzog, die Öffentlichkeit mit ihren körperlichen oder seelischen Befindlichkeiten nicht zu belästigen. Als Turhan enişte vor fast siebzig Jahren meiner hala seine Liebe gestand und ihr einen Antrag machte, sagte sie ihm, "ich heirate dich, aber wenn du nochmal so einen Schweinkram von dir gibst, prügel ich dich ins Frauenhaus." Abends aber wurde die hala ganz weich und befahl ihren Kindern, "geht in den Garten und pflückt eurem baba Trauben". Die zuckersüßen Früchte knipste sie ihm eigenhändig von den Reben und schob sie ihm in den Mund. Sie saßen immer auf dem Teppich, nie auf dem kanepe. Sein Kopf lag in ihrem Schoß. Er lutschte die Trauben, saugte das Süße heraus und achtete darauf, die Klappe zu halten. Einmal aber konnte er nicht anders und sagte, oh, wie ist das schön! Sie klatschte ihm eine. Als er starb, wollte sie mit ihm gehen. Ciğerim, ciğerim, schrie sie ihm hinterher. Sie schütteten das Grab zu, aber sie formte ihre kleinen Hände zu Schaufeln und hob alles wieder aus. "Nicht so viel Sand auf einmal", sie weinte und war verzweifelt, "er erstickt, hört auf, hört auf damit!"

Nun saß sie bei Dr. Ibrahim auf der Liege, er saß neben ihr und sagte: "Die Leber kann ich dir reparieren. Nicht aber dein Herz". Und niemand weiß, warum, aber auf einmal wurde die hala pisko, sie lehnte ihren Kopf an die Schulter der Leberkoryphäe und sagte: "Mein Herz liegt mit Turhan in der Dunkelheit". Da wollte der Arzt ihre Wange streicheln, aber meine hala ist immer auf der Hut, sie klatschte ihm eine.

15. Dezember 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 50/2023

Melek hala hat vier Kinderund eine ernste Sache an der Leber. Melek ist natürlich der unpassendste Nameder Welt für meine hala, denn ein Engel würde niemals motzen, meckern oderschimpfen. Und hala, weil es Vaters Schwester ist, die Schwestern der Müttersind teyzes, die der Väter halas. Wenn man Melek hala einen guten Morgenwünscht, dann wünscht sie kein höfliches "günaydın" zurück. Sie mault sichschonmal für den Tag warm. "Guten Morgen? Guten Morgen?? Für dich vielleicht,für mich ist es ein Morgen, an dem ich wünschte, ich wäre niemals aufgewacht",und so weiter und so weiter.

Ihre vier erwachsenen Kinderbrachten sie wegen der Leber von einem Arzt zum nächsten. Bis einer sagte, diemuss nach Malatya, zu Doktor Ibrahim.DieLeberkoryphäe. Dievier erwachsenen Kinder meiner Melek hala verschleppten sie aus Bingöl nachMalatya. So zeterte meine Melek hala das später meinem Vater am Telefon: "Ichhabe gesagt, legt mich unter einen Stein und lasst mich sterben. Aber siebanden einen Strick um meinen Hals und zogen mich wie ein Stück Vieh aus meinemHaus", und so weiter und so weiter.

In Wahrheit bettelten meineCousinen Fatoş und Leyla auf Knien bei der Leberkoryphäe darum, mit meinerMotz-hala vorstellig werden zu dürfen. Dann mieteten sie einen großen Wagen, umdie hala im Liegen nach Malatya transportieren zu können. Alle ihre viererwachsenen Kinder nahmen sich von der Arbeit frei, um ihre Mutter zubegleiten. Natürlich machte meine leberkranke hala aus einer dreistündigenAutofahrt eine siebenstündige Odyssee, indem sie auf der Fahrt einenSchlaganfall, einen Herzinfarkt und ein Aneurysma bekam. Das sind natürlichkeine klinischen Diagnosen, sondern halas Befunde. Jedes Mal, wenn Fatoş überein Schlagloch fuhr oder beim Abbiegen die hala eine Winzigkeit zur Seitekippte, jammerte sie: ayy anorisma oldum, oder irgendeinen anderenQuatsch.

Bei der Leberkoryphäe warenUntersuchung und OP-Besprechung kaum möglich, weil sie den Arzt beleidigte underniedrigte. "Du Trottel, ich hatte sechzig Jahre lang eine Schlachterei, ichweiß, wo die Leber sitzt", kommentierte sie Dr. Ibrahims Versuch, den CT-Befundmit ihr zu besprechen. Und auch sonst meinte sie, dass sie sich im Leben nichtunter seine "wetzenden Messer" legen würde, denn wenn er so ein Künstler sei,operettete sie, "warum bist du dann in diesem gottverdammten Malatya gelandetund nicht in Ankara oder Los Angeles", und so weiter und so weiter. Bei Los Angeles – oder wie meine hala es aussprach:losancolos musstennicht nur meine vier erwachsenen Cousinen und Cousins, sondern auch dieLeberkoryphäe kurz auflachen, weil, wo kam das denn auf einmal her?

Nach allen abschließendenUntersuchungen, Befunden und durchlittenen Demütigungen, Herabsetzungen undErniedrigungen, beschloss Dr. Ibrahim, die hala muss operiert werden. Oder wiemeine hala es kommentierte, "zerstückelt werden, damit der Trottel meine Leberteuer auf dem internationalen Organmarkt verkaufen und sich eine Scheißvilla inScheißmalatya unter seinen Scheißarsch bauen kann", und so weiter und soweiter.

Noch ein letztes Detail,bevor ich nächste Woche weitererzähle: Die Leberkoryphäe verstand natürlich,dass meine hala Todesängste durchlitt. Er hatte in seinem Leben mehr alstausend Lebern operiert und viel Erfahrung mit dem Organ. "Mehr als tausend Lebern?",fragte meine hala nun doch interessiert. "Mein Gott, wie alt bist du denn?"

"Was glaubst du wohl, wie altich bin", fragte Dr. Ibrahim zurück. Meine magere, dauerfröstelnde hala kramteaus ihren vielen Strickjacken, Blusen und unzähligen übereinander gezogenenUnterhemden ihre knittrige, schlaffe Brust heraus, oder jedenfalls tat sie so,und sagte, "Komm her und nuckel. So alt bist du!" Dazu muss man wissen, dassDr. Ibrahim fast siebzig ist und meine hala ungefähr 130 Jahre. "Du könntestmein Baby sein", sagte die hala zum Arzt, der nun wirklich sehr verblüfft war,denn er hatte schon viele alte Schachteln auf dem OP-Tisch, und alle jammertensie (das macht diese besondere Luft zwischen Euphrat und Tigris), aber so eineSchreckschraube wie meine hala war auch für ihn gewaltig ungewöhnlich.

Die hala haute Erol auf denHinterkopf, "dieser Nichtsnutz hier ist mein schlimmstes Baby von allen",degradierte sie meinen fast 60-jährigen Cousin vor aller Augen, "dieserNichtsnutz hat mich beim Nuckeln ausgesaugt, als wollte er den Euphratleersaufen, und jetzt", sie setzte zu ihrer letzten Arie an diesem schlimmen,anstrengenden Tag für meine armen Cousinen und Cousins an, "bringt dieserNichtsnutz seine Mutter zu einem minderjährigen Praktikanten undProvinzpfuscher". Dazu muss man wissen, dass sich Malatya zu Bingöl wie New York zu Town ofHenrietta verhält. Oder Berlin zu Bruchhausen-Vilsen. Woher ich dasalles überhaupt weiß? Leyla ruft regelmäßig, noch auf dem Krankenhausgang,unseren Onkel Arif an, der ruft meinen Vater an, und der erzählt es mir jedenSonntagvormittag am Telefon.

08. Dezember 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 49/2023

In der Nacht wieder keinen Schlafgefunden, und im Paralleluniversum der "NDR Doku" gelandet. Nordstoryheißt das Format, das aus – jetzt nur so als Beispiel – einem Glockengießer ausSchleswig und einem von der Tide zurückgespülten Gummistiefel einenExpeditionsbericht kuratiert, der einen in Gefilde bringt, in die ein Alexandervon Humboldt einen noch nicht hat bringen können.

Hafenimbisse, seit Monaten ein absoluter Geheimtipp unter Nordstory-Insidern,angeteasert mit dem dezenten Untertitel "Deftige Kost und deftige Sprüche", erzähltdie Geschichte der historischen Kaffeeklappen, die einst die Männer im Hafen,in den Docks, in den Containerwerkstätten versorgten, und was davon noch übrigblieb. Die Kantinen der Werften haben die Kaffeeklappenkultur verdrängt, und nurnoch hier und da, gibt esReminiszenzen: Uschis Imbiss oder Zum Lütten Foffteiner.

Der Film zeigt mit viel Liebe zumDetail, wie Odo morgens um 3 das Frikadellenhack aus dem Laminatbeutelmassiert, damit pünktlich um 5 die frisch gebrutzelten Knastpralinen imSchlafrock mit Schmatzi (Frikadelle im Brötchen mitSenf) für die Schlossser, Schweißer oder Trucker aus dem Uelzener Hinterlandserviert werden können. Es gibt auch à la carte, zumBeispiel frische belegte Brötchen mitMaurermarmelade oder "Schniddaiii", also Mett oder in Scheiben geschnitteneshartgekochtes Ei. Alles natürlich immer streng nachKaffeeklappenlebensmittelrecht, ohne Tomate und "annern Gemüsegarten". Guter Filmüber gute Leute. Hatmir zu mehr Wissen und Bildung verholfen als dieOberstufe mit Abitur. Definitiv das Beste, was es derzeit auf dem deutschenFernsehreportagemarkt gibt! Muss gegen 4 gewesen sein, als ich mit meinemImbissbachelor endlich einschlafen konnte.

01. Dezember 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 48/2023

Zum Frühstück Haferflocken undmittags die große Frage, wie viele Male ich mit Vater noch sterben werde. Eineverzweifelte Vaterliebe ist das. Eine, die in aufgeschriebenen Worten wie warmeVaterpoesie klingt, aber in echt drückt sie einen unter die Erde. Mein Lebenist leer ohne dich. Alles Glück dieser Welt habe ich durch dich erfahren. OhVater, sage ich manchmal, wie kannst du nur so ohne Kompass durchs Lebentorkeln? Deinen Tod habe ich unzählige Male geprobt. Habe dich zu Lebzeitenfertig beweint. Stand in Gedanken jahrelang an deinem Grab und vermisste dichim voraus. Bis du wieder mit deiner kleinen Tasche auf der Matte standest undsagtest, na wie geht’s? Hast du für"deine Papa" noch Platz? Hatte ich, und der erste Tag war lustig und aufregend,der zweite schön, der dritte fing an, anstrengendzu werden, am achten Tag war ich äußerlich schon zweimal und innerlich zwanzigMal ausgeflippt. So geht doch kein Leben, habe ich dir entgegen geschrien, manmacht doch keine Kinder und hält sich dann wie ein Ertrinkender an ihnen fest.Wohin soll ich denn gehen, hast du gefragt, was weiß denn ich, fahr doch malzur Reha nach Bad Oeynhausen. Okay, mein Kind, hast du geantwortet, ich lassedich in Ruhe, und bist zu Tchibo gegangen, hast einen Kaffee getrunken und einHandtuch, einen Milchaufschäumer oder eine Meniskus-Kniebandage mitgebracht unddich den ganzen Abend ganz still verhalten, beschämt, erniedrigt und eingeschüchtert.Ist doch klar, dass ich das nicht gut aushalte. Also lachte ich und klopfte dirauf die Schulter, ist schon gut, alter Knochen, kannst bleiben und dich an mirfesthalten. Nun höre ich am Telefon, wie du keuchstund hustest, wieder ein Winter zwischen uns, von dem wir nicht wissen, wasdanach wird. Wieder ein Winter mit Wind in den Weiden und der großen Angst,dass du gehst und mich nie wieder zu Tode nerven wirst.

24. November 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 47/2023

Das Karstadt am Leopoldplatz macht dicht. Schirme, Karnevalskostüme und Pfannensets werden mit einem Rabatt von 20, 30 oder 50 Prozent verkauft. Wenn das Kaufhaus im Wedding schließt, gibt es künftig auf der Müllerstraße nur noch Pizza-, Waffel- und Sahnetortenläden. Und dazwischen Apotheken. Die Apothekendichte ist erschütternd. Und dann noch die halbtoten Crackwracks. Eingeschissen, vollgepisst und elend zugrunde gegangen liegen sie quer im Park oder vor den U-Bahneingängen. Wahrscheinlich hat hier kaum einer ein Wahlrecht, weshalb sich die Berliner Politik von ihrer abwesendsten Seite zeigt. Zwei große Kirchen und dazwischen offene Prostitution mit eilig herunter gelassenen Hosen. Wenn abends der Karstadt schließt, bleiben nur noch die verlorenen Seelen übrig, die mit irre aufgerissenen Augen durch die Gegend stromern und schreien oder Leute bedrohen oder weinen. Seltsame So-tun-als-ob-alles-in-Ordnung-ist- Stimmung im Kiez, obwohl hier gar nichts in Ordnung ist. Das Elend, die Not und das Unglück werden aus dem Stadtzentrum immer weiter in den Norden, in den Wedding gedrängt. Hier geht niemand raus, zum Schlendern oder einfach so auf der Parkbank sitzen und mit dem Nachbarn plaudern. Das Drogenelend dominiert jeden Platz, jede Parkbank, jeden U-Bahneingang, jede Bushaltestelle. Wer sich dafür interessiert, wie eine Gegend aussieht, die den politisch Verantwortlichen komplett egal ist, ist rund um den Leopoldplatz genau richtig. Und also laufe ich in den DHL-Shop oder zum Passfotoautomaten, aber immer schnell, weil es alles so mordsgefährlich ist, nicht erst nachts, nein, nein, auch schon um 17 Uhr oder 21 Uhr, und denke, nicht verbittern, nicht ekeln, nicht über andere Leute die Nase rümpfen, das ist hier politisch gewollt, das gehört keineswegs in irgendeinen Grollwinkel des Gemüts wegignoriert, sondern prominent ins Zentrum des Schreibens gerückt.

17. November 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 46/2023

Es ist einer dieser kalten, regnerischen Tage. Neben mir in der Berliner Ringbahn sitzt ein alter Kerl im Achselshirt und erzählt ungefragt, "Ick bin als Soldat mal bei minus achtzehn Grad einjeschlafen. Für mich kann ditt jar nicht warm jenuch sein". Der Kerl ist höchstens sechzig Jahre alt und Deutscher, welchen Krieg er wohl meint? Und wenn er es warm mag, weshalb sitzt er fast nackt in der Bahn? Er knabbert Biomaiscracker, auf seinem Armreif steht: "Beten tut der Seele gut". Jeder Fahrgast ist dick eingemummelt in Schal, Mütze und Winterjacke. Aus seinem Rucksack kramt er Latschenkiefer Beinbalsam raus und reibt sich die nackten Beine damit ein. Er stöhnt und genießt die Abreibung. Mit langen Bewegungen streicht er über die Waden und zieht die Bewegungen bis zu den Oberschenkeln hoch. Ditt kühlt richtig schön, freut er sich. Endlich grinsen die ersten Fahrgäste etwas. Das ist nämlich eine typische Berliner Eigenschaft. Egal wie hoch die Verrücktendichte in der Bahn ist, niemand lacht, zwinkert sich zu oder schaut wenigstens interessiert. Der hier ist aber auch für Berliner Verhältnisse außergewöhnlich aufsehenerregend.

Ein Clochard mit Hund steigt zu. In geschliffenem Deutsch hält er sein Eröffnungsplädoyer: Meine Berta und ich möchten keineswegs als Belästigung betrachtet werden und schon gar nicht als Geruchsproblem. Ich hoffe, wir riechen nicht!? Jedes Jahr nimmt die Zahl der auf der Straße lebenden Menschen in Berlin zu. Das führt zur Konkurrenz unter den Bettelnden und mittlerweile gibt es welche mit beeindruckend raffinierten signature-Begrüßungen. Berta und er stinken so enorm, dass die ersten Fahrgäste sich höflich in ihre Schals verkriechen. Ich habe Glück, weil ich neben dem Latschenkiefergeneral sitze. Ich versuche mich unbedingt auf die Kräuterwolke zu konzentrieren.

Bertas Herrchen kommt nun zu seinem eigentlichen Anliegen. Gekonnt schlägt er den Bogen von der Erderwähnung und dem Schmelzen der Polkappen ("Müssen Se selber entscheiden, watt se von halten") zu seinem Schicksal ("Der soziale Wohnungsbau ist, wenn Se mich schon so fragen, am Arsch") zu seinem "persönlichen 9/11". Ick hab an de große Liebe gegloobt, nun sitzt meine Exfrau in der Villa mit Pool, und ich drück meine Stunden in der Bahn ab, fasst er rasch zusammen. Zwischen den Stationen ist nicht viel Zeit, die Story muss kompakt sein, es muss genügend Zeit bleiben, um die Honorare einzukassieren, beim nächsten Halt dann rasch in den nächsten Wagen. Sein Auftritt ist sensationell, die Fahrgäste kramen schnell nach Kleingeld. Er steigt aus, die Bahn fährt weiter, und was jetzt erst auffällt ist, dass hinter ihm die ganze Zeit, gewissermaßen in der Warteschlange, eine Nachrückerin wartete. Eine richtig mürrische alte Schachtel, sichtlich beeindruckt vom Erfolg ihres Vorgängers und festen Willens, im Windschatten ihres Vorgängers ebenfalls große Kasse zu machen. Sie kräht: "Watt er hier am eben am Labern war!! Genau ditt. Ick oooch!"

10. November 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 45/2023

Über ein Jahrzehnt wohnten wir übereinander. Sie unten, ich eine Etage drüber. Ich brachte ihr Salzbrezeln, wusch ihre Wäsche, klingelte auch einfach mal so. Maria, fast neunzig, hat eine große Familie. Zu Weihnachten wurde sie für einen Nachmittag abgeholt. Zu Ostern auch. Aber im Alltag war niemand für sie da. Wenn in den Nachrichten ein Gewitter angekündigt wurde oder der Postbote wechselte und sie sich deshalb fürchtete, weil "heute wieder ein fremder Mann im Haus war", dann war ich ihr Anker. Dann nahm ich die fast 90-Jährige in den Arm, und es reichte, dass ich versprach, dass ich alle Fenster im Haus während des Gewitters fest im Blick habe, dass alles gut werden wird und dass ich ganz genau höre, wer ins Haus kommt. Einmal stand ein Typ von einer Sekte vor ihrer Tür und quatschte sie voll. Fast hätte sie ihn reingelassen, denn als Katholikin, die noch bis neulich jeden Sonntag in die Kirche ging, war sie für Gott und seine Gesandten immer offen. Da hätte sie alles unterschrieben und gespendet. Ich aber wohnte oben und hörte alles. In über einem Jahrzehnt nahm ich ihr oft den Kugelschreiber aus der Hand oder verscheuchte dubiose Gäste.
Dann kam ein massiver Altersschub. Die Ohren abwesend, das Glasauge links war sowieso nur Attrappe, und das rechts benebelte die Welt. Schmerzen im Bein, halbe Nächte hörte ich sie mit dem Stock auf und ab gehen, tok, tok, tok, ich litt mit ihr mit. Aus der beweglichen, zarten lebensneugierigen Nachbarin, wurde ein der Welt abgewandtes Wesen, dem Camembert und die Tasse Kaffee nicht mehr schmeckten. Und wenn ich Suppe brachte, dann nicht mehr wie früher im Topf, den sie sich dann selber warm machte und sich alles einteilte, wie es passte, sondern im Teller. Und den Löffel drückte ich ihr auch in die Hand. Und immer dachte ich, was soll bloß werden, wenn ich ausziehe. Sie kann unmöglich so alleine wohnen, niemand wird kommen und helfen. Richtig verzweifelt war ich. Dann musste ich ausziehen, Kündigung wegen Eigenbedarf, und sie sagte erst, "Tragödie", und dann, einige Tage später, als sie sich gefangen hatte, und wie es ihre Art war, "Ich komme zurecht, sorge dich nicht!".

Ich besuchte sie später, da wohnte ich schon längst im anderen Bezirk und sah natürlich genau das, was ich befürchtet hatte. Triste Einsamkeit und ein für hilfsbedürftige Alte typisches ausgekühltes Leben. Ein alter Apfel lag in der Küche in einer Schale. Alles Geschirr und Besteck hatte Patina. Sie war freundlich wie immer, aber eben nicht mehr der Mensch, der sie sonst gewesen war: morgens das Radio, mittags der Kaffee, abends die Nachrichten, und bedingungslos offen für stundenlange Fernsehübertragungen von Königskrönungen oder Staatsbegräbnissen. Sie war eindeutig mit einem Bein schon halb bei ihrem lieben Gott und auch bei Ratzinger. Den liebte sie als gebürtige Bayerin über alles.

Dann überraschend der Anruf. "Du, ich muss dir was erzählen. Ich soll ins Heim." Ich war betrübt, ich kannte doch diese Orte, die Beschreibungen, die Bedingungen. Die routinierte Lieblosigkeit eines Systems, das aus Menschen Pflegegrade macht. Mit etwas Unterstützung und einer besseren medizinischen Versorgung hätte Maria bis zum Schluss in ihrer Wohnung bleiben können. Hätte ich nicht weggemusst, hätte Maria nicht weggemusst.

Und jetzt kommt es: Ich rief Maria in ihrem neuen Zuhause im Pflegeheim an und weil ihr Hörgerät (es ist auch nach Jahren nicht richtig eingestellt worden) immer rückkoppelte, schrien wir uns gegenseitig an. Maria, wie geht es, wie ist es, erzähl alles. Und sie versuchte, das Gebiss rutschte in ihrem Mund hin und her, sich so deutlich wie möglich zu artikulieren, aber ich verstand fast nichts. Aber ein paar Worte hörte ich doch: "prima" und "hervorragend". Dabei betonte sie Silbe für Silbe, und das ist immer ein Zeichen, dass Maria die Wahrheit sagt und nicht bloß aus Höflichkeit zwitschert. Wir vereinbarten, dass wir nochmal telefonieren würden, und dass ich ganz bald mit Kuchen anrücken würde. Dann übergab sie dem Pfleger den Hörer, und der hatte eine ganz ruhige und liebe Stimme. Und Zeit, ich meine Zeit!, die hatte er auch. Er erzählte, dass Maria immer selbstständig käme, wenn sie Fragen hätte, dass sie an allen Mahlzeiten teilnähme und sehr fröhlich und ausgeglichen sei. Und dann sagte er, "Wir haben keine Besuchszeiten. Sie kommen, wann Sie wollen. Und wenn Sie Kuchen mitbringen oder etwas anderes, bedienen Sie sich an unserem Geschirr, alles liegt offen zur Benutzung aus".

Mein Herz wurde ein Sonnenaufgang, das aufgehende Licht strahlte hell und freundlich über Marias und mein Leben. Am Wochenende fahre ich zu ihr.

3. November 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 44/2023

Vater reist ab. Weiter zumnächsten Kind Richtung Bayern. Wir setzen ihn in die erste Klasse in den ICE.Der Zug steht schon bereit, uns bleiben ein paar Minuten. Der Vater ist alt undgebrechlich. Die Besuche beim Arzt hat er so verinnerlicht, dass er sich aufdie Fahrt als "Erster-Klasse-Patient" freut. Die Schaffnerin sieht, wie wir unsum den Vater bemühen, und verspricht, gelegentlich nach ihm zu sehen. "Ichliebe alte Menschen", sagt sie, und, als habe sie in den Welpenkäfig geschaut:"Der ist aber süß". Wir kümmern uns rasch um Vaters Gepäck, er aberprotestiertflüsternd, sie braucht nicht nach mir zu sehen, ich kommealleine zurecht.

Das ist jetzt mein Moment,das mache ich schon mein ganzes Leben lang so. Papa, sage ich, in der erstenKlasse ziehen sie dir deine Hausschuhe an und bringen Suppe. Falls es zuVerspätungen kommt, bitte die Schaffnerin, mit dir Karten zu spielen. Dieältere Dame, die vor meinem Vater Platz genommen hat, lacht laut auf, drehtsich zu uns um und sagt, ich spiele mit! Auch Vater lacht. Er weiß, dass ichQuatsch erzähle, aber er weiß nicht, welcher Teil davon Quatsch ist. Diebringen doch keine Suppe, oder? Ist doch kein Krankenhaus, sondern ein Zug, erweiß nun wieder Bescheid. Doch, sage ich, sie bringen Suppe. Bestell einfachwonach dir ist, Tee oder Kaffee, egal. Du musst nur deine Versichertenkartezeigen, die rechnen das über die AOK ab. Du musst jetzt raus gehen, sagt er,der Zug fährt gleich ab. Und, wie so oft sagt er auch, schreib deinen Quatschbesser auf statt, Achtung Originalpapadeutsch, "Imma deine arme Papa veraschizu machen". Er breitet die Arme aus, damit wir Abschied nehmen. Ich umarme undküsse ihn schnell. Nicht schnell genug. Er bebt in meinem Arm. Danke für alles,weint er. Nicht traurig sein, im nächsten Jahr sehen wir uns wieder. Imnächsten Jahr, schluchzt er tapfer, wenn die Welt noch steht. Sie wird stehen,Papa. Ich springe raus. Ich winke.

27. Oktober 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 43/2023

David-Beckham-Dokuauf Netflix gesehen. Keine Ahnung von Fußball gehabt. Ecke, Freistoß,Strafraum, Wörter ohneBallbedeutung. Bis jetzt. Bin völligangefixt. Wie kann man so einen Körperhaben? So ein nahezu artistisches Gespür für den Ball. Ihn mit der Kraft Hüfte abwärts zielsicher in dieseoder jene Richtung bringen. Habe immer gedacht (Dumme, die keine Ahnung haben,denken so):Wer braucht den Scheiß? Nach der Doku habe ich verstanden,dass ein Fußballspieler und ein, sagen wir, Musiker sich kein bisschenvoneinander unterscheiden. Sie üben, üben, üben, bis der Körper gehorcht. Der eine beherrscht denBall, der andere das Instrument. In den Nahaufnahmen sah es einfach fantastischaus, wie Beckham mit dem Ball tanzt. Großes Glück dabei empfunden, für Fußballdoch noch eine Art Erklärung gefunden zu haben. Und dann dachte ich auch, ichglaube, ich würde das auch gerne können,was Beckham kann.

20. Oktober 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 42/2023

Der Vater ist zu Besuch. Sobald er deutschen Boden betritt, meint er auch, Deutsch sprechen zu müssen. Sein Körper ist schon hier, aber seine Sprachseele ist noch auf Reisen. Weshalb alle Worte und Sätze, die seinen Mund verlassen, sich immer einen Millimeter neben dem Wörterbuch befinden. Beim Arzt zeigt er deshalb seine "Chipskarte", und in der Nacht meint er, eine "Pflegemaus" vorbeiflattern gesehen zu haben. Fast wäre er von einem vorbeifahrenden "Mafiafahrer" erfasst worden, und im Lottoladen bittet er um einen "Klungelscheiber", um die Kreuze machen zu können. Dass der Pizzabäcker ihm ein Schälchen "Oliver" dazu gestellt hat, findet er sehr aufmerksam, sie sind "sehr schmecker, danke schön!". Auch dieses Jahr ist er freundlich und ausgeglichen, oder um es in seinen Worten zu sagen, er ist ein sehr "glukklukke Papa".

13. Oktober 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 41/2023

Nach der Lesung im Literaturhaus Zürichsigniere ich Bücher. Ein Zürcher Leser hält mir ein Buch hin. "Für Regula" sollich schreiben, wenn es keine Umstände mache. Macht es natürlich nicht. Könne auch ruhig persönlicher sein, ermuntert mich der sehr feine und höfliche Herr. Ich schreibe: "Für Regula von Mely".

Das signierte Buch reiche ich ihmzurück und bitte ihn, Regula von mir zu grüßen. Da sagt er zu mir, Sie sind wiemeine Regula. Alles an Ihnen erinnert mich an sie. Schreibt Regula?, frage ichihn. Nein, tut sie nicht. Sieht sie etwa aus wie ich? Aber nein, ganz und garnicht. Ist sie in meinem Alter? Da hätte ich mich aber sehr gut gehalten, lachter sich kaputt. Ist es vielleicht meine Art? Ganz im Gegenteil, sagt RegulasGatte.Ich fasse es für ihn und mich zusammen: Ihre Regula, sage ich, hatalso weder meinen Beruf, noch sieht sie aus wie ich. Auch teilen wir uns nichtdas Alter, und ihre Art ist auch völlig anders alsmeine. Es rücken nun auch die umstehenden Leser etwas näher an den Tisch. Wirsind alle sehr gespannt. Was genau ist denn nun bei mir wie bei Regula? Naeinfach alles, ruft Regulas Mann, dabei zieht er mit seinen Händen einen imaginärenKreis um mich, einfach alles!

6. Oktober 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 40/2023

"Schmelzen Butterblumen? / Nein, sie schmelzen nicht / Fliegen Vögel rückwärts? / Nein, ich glaube nicht." Das Lied ist über ein halbes Jahrhundert alt, und vom Album "Worum geht‘s hier eigentlich?" von Hildegard Knef.

Manchmal geschehen sie noch, die seltenen Radiomomente, wo man aufdreht und ein Lied den Abend anhält. Das war so einer. Francesco Wilking stellte seine Lieblingslieder vor, viel italienischer Schlager, aber eben auch das: "Wer reibt Schnee zu Flocken? / Du, ich weiß es nicht (…) Was ist Ewigkeit? / Worauf wartet ihr/ Und habt niemals Zeit?"

29. September 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 39/2023

Auf den Kühlschranktüren bei Rewekleben Zettel. Auf ihnen steht eine komplizierte Formulierung. Nämlich, dass "derzeitdie Kühlregale bestreikt werden".Der Satz ist seltsam. Es werden dochhoffentlich die Arbeitgeber und Konzerne bestreikt.

Mir fiel auf, dass die Kühlmeterimmer leerer werden. Zu Hause versuche ich herauszufinden, was los ist. Auf denInternetseiten von Ver.di erfahre ich, dass die Lagerarbeiterinnen undLagerarbeiter im Großhandel mehr Lohn benötigen. EinStreik ist etwas Schönes und Solidarisches. Gemeinsam fürseine Arbeitnehmerrechte einzustehen, ist mutig. Hoffentlich können die Lohnforderungen mithilfe der Gewerkschaftdurchgesetzt werden. Vor allem wünsche ich mir, dass Rewe die peinlichen Zettelabnimmt und durch neue ersetzt. Da muss stehen: "Diese Regale sind leer, weildie Menschen, die sie auffüllen, sich das Essen darin nicht mehr leisten können. Wir wünschen den Streikenden viel Erfolg!"

22. September 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 38/2023

Tommi ist da. Der Handwerker. So wie er gesagt hatte, kam er nach exakt vier Wochen wieder, um die Fenster aufzuarbeiten, oder wie er es sagt: uffzumöbeln, wa!

Alles ist genauso, wie er es erklärte. Schleifen, vorstreichen, abspachteln, lackieren. In Tommis Sprache klingt natürlich alles viel fachmännischer: Rutsche mit Sauga, achzer Schleifpapier, Akkrüll, und dann schön mitn Rundpinsel - keen Klopper!! – vorsichtig Lack druff.

Er arbeitet gewissenhaft und sauber, sein Schwingschleifer mit eingebautem Staubsauger (der hat richtig Zuch druff!) verursacht kein Körnchen Staub.

Am Nachmittag, die Fenster sehen aus wie neu, bedanke ich mich und lobe, was das Zeug hält. Eigentlich, meint er, sei das alles kein Kunststück, ich hätte das auch gekonnt. Nicht doch, Herr Tommi, insistiere ich, ich bin doch keine Handwerkerin. Doch Tommi ist auf einmal richtig in Fahrt. Er packt alles wieder aus, die Maschinen, das Acryl, die Pinsel und so weiter, und erklärt und zeigt. Und wie er mit seiner Masterclass fertig ist und endlich Anstalten macht zu gehen, dreht er sich auf der Hausmatte noch einmal um und empowert mich ein letztes Mal: Ick gloob an Sie!

15. September 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 37/2023

Lütfiye und ich sind in Dortmund. Wir lesen. In der ersten Reihe die Zuschauerin, die weint. Zwei Stunden lang fließt ihr die Verzweiflung übers Gesicht. Lütfi meint, die kommen meistens schon so an, das hat nichts mit uns zu tun. Nach der Lesung ist da noch der Lehrer. Er schreibe auch Gedichte, was wir machen, bestärke ihn, er werde kündigen. Nein, nicht doch, warne ich, dann endest du wie wir. Willst du noch mit fuffzich oder sechzich tingeln? Und jedesmal schenken sie dir zum Dank eine Tasse und einen Stift.

Der nächste Morgen, wie immer hat man eine Art Literaturhauskater. Der erste Zug fällt aus, der zweite fährt nur bis Hamm. Warten bis die richtige Fahrt losgeht. Neben dem Hauptbahnhof ist McDonalds, daneben Rewe to go und daneben Rossmann Express. Am ganzen Bahnhof können nur sechs Leute sitzen. Und die sitzen alle schon. Unter anderem so ‘ne richtige Kittelschürzenomma, die mich freundlich anlächelt und mit der Hand halb auf ihren Schenkel patscht: "Hier ist noch Platz. Kommste einfach mit dazu."

8. September 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 36/2023

Pierre Boulez Saal. Daniel Barenboim dirigierte das West-Eastern Divan Orchestra. Sie spielten Mozarts letzte drei Symphonien, und ich grübelte die ganze Zeit, welche Worte müsste man nehmen, um diese Magie, diese fabelhafte Atmosphäre zu skizzieren? Barenboim, eigentlich eine überirdische Gestalt, alt und krank und würdevoll. Reduziert und minimalistisch in seinen Bewegungen. Keine Noten, er dirigierte auswendig. Eine ganze Weile stand er sehr bewegungslos und tippte mit dem Taktstock kurz hierhin und dorthin, fast ein wenig autoritär. Und dann, irgendwann ab der Mitte, war es, als kapitulierte er vor der Schönheit der Musik. Mozart, das muss man wissen, ist sein Leben. Auf einmal beugte er sich vor, ins Orchester, und es war, als rührte er mit den Armen weit ausholend die Töne um. Er zog Halbkreise über die Musiker, er hatte die Augen geschlossen. Seine Stimmung übertrug sich auf der Stelle ins Orchester. Hinten die beiden Hornisten wiegten synchron ihre Rücken. Ein Bläser hob und senkte die Sohle seines Lackschuhs auf und ab. Am Ende der zwei Stunden verbeugten sich die Musiker vor dem Publikum und voreinander und begannen sich gegenseitig zu umarmen. Klar, symbolisch gemeint, aber auch echt. Israeli und Palästinenser, das Publikum begriff und jubelte und stimmte zu.

1. September 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 35/2023

Lütfi, sage ich, an deinem Grabwerde ich die schönste Grabrede der Welt halten, dasverspreche ich dir. Ich werde wehklagen: "Nankörler, jetzt ist sie tot, unsere Ingeborg Bachmann des Potts, aus ihremSchlot flossen Verse der Wehmut, der Wahrheit und des formvollendetenKlamauks."Abi, unterbricht mich Lütfiye (sie nennt mich immer abi, alsogroßer Bruder), an meinem Grab wird außer dir niemand stehen. Ach Quatsch!,sage ich, die ganze kleine Welt der Lyrik wird da sein und weinen. Abi, sagt Lütfi,ich bin Einzelgänger, ich hab’ keinBock auf çevre, und du auch nicht. Niemand steht an unseren Gräbern. Wenn ichsterbe, kommst du?, frage ich, meine Nachbarn kommen auch, das weiß ichHundertprozent. Sie verspricht, wenn ich bei der Bahn Frühbucherrabatt mitSparpreis kombinieren kann, bin ich da. Und noch was, jetzt ist sie in Fahrt,nach meinem Tod, NICHTS VERSÖHNLICHES!! Sag einfach, schönen Gruß von Lütfiye Güzel, fickt euch alle. Lütfi, sage ich, eineGrabrede funktioniert nicht wie ein Talk unter Lebenden, es handelt sich umErinnerungsprosa. Boah, sagt, Lütfiye, ich hab‘jetzt schon genug von deinem Grabscheißmit Abitur, mach nicht auf Literaturinstitut! Was wirst du denn zu meinem TodGehaltvolles beitragen, frage ich? Sie antwortet: Habt ihr sicher selber schongemerkt, jetzt ist sie weg.

25. August 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 34/2023

Zekiye abla überreicht mirdie Weintrauben. Es sind sicher drei Kilo. Ganz kleine Früchte und sehr sauer. Siefragt mich, ob ich wüsste, wie man aus den Früchten Essig machen könnte. Es istfast Mitternacht, wir stehen am Rio-Reiser-Platz, gleich am Goldenen Hahn, wodie Opa-Punks damit beschäftigt sind, das Bierglas so zum Mund zu führen, dasssie möglichst wenig verschütten. Der erste Polizeieinsatz ist gerade beendet,das Polizeiauto fährt weg, da bahnt sich schon der zweite Polizeieinsatz an,und ein Krankenwagen will auch vorbei.

Ich klicke – wir stehen immernoch mitten auf dem Platz – ein YouTube-Video an, eine türkische Hausfrauerklärt, wie man koruk ekşisi macht, aber Zekiye abla schüttelt den Kopf. DieHausfrau im Video verwendet Zucker und Essig, beyenmedim, sie ist unzufrieden,ich muss ein anderes Video anklicken. Der Platz ist laut, Touristen strömen insAngry Chicken, Einheimische sitzen vor Möbel Kleinke, das jetzt ein Laden fürSternenstaub beseelte Yogisten ist und andere sich auf den Weg gemacht Habendeund sich Suchende. Der Krankenwagen hat seine Sirene anundhupt,drüben aus dem SO 36 strömt etwas Nachtpublikum raus und verteilt sich wieSeerosen auf einem Teich über den Platz.

Frau Zekiye hat für denTrubel kein Auge. Wozu auch? Sie lebt hier seit den 1970er-Jahren. Das "Krautund Rüben", den Bioladen der Frauenkooperative, kennt sie schon ewig, dieFrauen, die das Hamam daneben betreiben, auch, die Buslinie M 29 ist wie ihrPrivattaxi. Damit fährt sie zu ihrer Mutter oder ihrer Tochter oder ihrem Enkelkind.

Sie legt ihr Ohr in meineHand mit dem Handy, so schlecht versteht sie die Anleitungen. Aus demPolizeiauto neben uns steigen hektisch zwei Beamte aus, da sagt Frau Zekiye,die haben alle keine Ahnung mehr. Neulich habe sie auf YouTube gesehen, wieeiner lahana turşusu mit Essig machte. Aber um Weißkraut einzulegen braucht mankaya tuzu. Sie habe sich einen Brocken aus der Türkei mitgebracht, aha, sageich und frage: Kann man nicht normales Steinsalz nehmen? Zekiye abla schautmich fassungslos an. Nimm auch den Beutel Birnen, sagt sie, ich habe sie fürdich gepflückt. Dann schaut sie in die Kreuzberger Nacht, in das blinkendeNeonlichterkettenspektakel mit seinem ganzen herrlichen Bordsteinpersonal undsagt, eine friedliche Nacht sei das. Wir küssen und verabschieden uns. Auf deranderen Seite des Platztes drehe ich mich um und schaue zurück. Da steht sie,meine liebe, alte Zekiye abla, und winkt nochmal, bevor sie sich umdreht und inihren Hauseingang verschwindet.

18. August 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 33/2023

Ick sach ma so, sagt derHandwerker, der sich fürsieben Uhrangekündigt hatte und Punktsieben da war, ick hab‘ schon schlimmeret jesehn. Er meint die Fenster, diedringend geschliffen und lackiert werden müssen.

Ick bin noch eener vonnealten Garde, sagt er. Wie alt wird er sein? Vielleicht Mitte zwanzig?Ickbin keener wo eenfach nur druff pinselt, erklärt er mir. Ditt wird richtigschön abjeschliffen, ick hab‘n Sauger anne Schleifmaschine, und dann kommtPreimer druff. Ditt trocknet, inner Zwischenzeit bin ick am annernFlügel.Aha, sage ich, und, hm-hmm.

Watt wern wa brauchen?, fragter, um dann gleich die Antwort zu geben: Ick sach ma, janzen Tag wern wa schonbrauchen. Gut, sage ich.

Ick heiß‘ übrigens Tommi,sagt er. Tommi, sage ich, alles klar. Wissense, sagt er, ick hab keene Laster,ick rooch nich, ich bleib die janze Zeit drin. Ick hab’ Kollegn, watt roochndie an so ‘nem Vormittag?, fragt er wieder rhetorisch und löst sofort auf: Icksach ma fümmzwannig wern das sein. Ick trink ooch keen Kaffee.

Okay Tommi, sage ich, unddenke, langsam fühlt es sich wie ein Date an. Ick bin‘n janz lieber, ickversteh ooch Spass. Da freue ich mich aber sehr Herr Tommi, sage ich, und weißeinfach nicht, wie ich hier akut Distanz aufbauen kann. Tommi will aber keineDistanz. Wenn watt is, sagt er, Sie können mich immer ansprechen.

Ich muss auf einmal wirklich schrecklich laut lachen. Er freut sich sehrund sagt, Sie sind eene vonne spaßigen Sorte, ick hab ditt gleich jesehen.Zum Abschied macht er eine grüßende Bewegung, indem er mit Zeige- und Mittelfinger an seine imaginäre Hutkrempe tippt. Wie jesacht, in vier Wochen sehn wa uns, wa? Jawohl, Tommi.Bis denne, wa? Ja, bis denne.

11. August 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 32/2023

Bin in Brandenburg, wo die Adressen der Seegrundstücke wie Romantitel klingen, "Tornows Idyll" oder "Weg zum großen Fenster" oder der hier, klingt der nicht wie ein Krimi: "Amtmanns Weinberg". Eine Handvoll Leute teilen sich einen ganzen, großen See. Man kann zwar in den See, aber nicht um ihn herum. Nicht einmal die Seegrundstücksbesitzer mit ihren kleinen Häusern am Hang können zu Fuß am Ufer entlang einmal um den See spazieren. Ein Stück Welt, aufgeteilt als wäre es eine Schwarzwälder Kirschtorte.

Ich fuhr ins Nachbardorf, wo die Feuerwehr mit dem Spruch "Deine Heimat, Deine Zukunft" wirbt und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. auf öffentlichen Tafeln an das Leid der Deutschen kurz vor Kriegsende erinnert. Der Eisladen dort hatte geöffnet, aber bei Regen rühren sie morgens kein Eis zusammen, wie mir der Eismann erklärte. Ich solle noch ein Dorf weiterfahren, denn da sei "der Chinese", und dessen Eis sei gar nicht so übel. Dort angekommen, hatte "der Chinese", der möglicherweise ein Deutsch-Vietnamese war, gerade sein "Italienisches Eiscafé" eröffnet, direkt neben einer anderen Eisdiele.

Zurück auf dem Seegrundstück beobachtete ich am Hang gegenüber, wie "der Engländer" (so nennen sie ihn hier am See) sein schweres Gerät aus dem Schuppen holte und seinen japanisch anmutenden Garten mit igelstachelkurzem Rasen und penibel winzig gestutzten Bäumen mit maximaler Elektrizität um einen weiteren Millimeter zu kürzen versuchte. Und weil gerade Regenpause war, stiegen die Seebewohner entweder auf ihre Jet-Ski oder durchpflügten ganz traditionell mit ihren Motorbooten den See.

Die Säcke für die gelbe Tonne hängt man hier übrigens in die Bäume und der Postmann hält immer pünktlich um halb zwei drüben im Birkenhain im Wald sein Postauto an und beißt in seine Mittagsstulle. Weder steigt er dabei aus, noch öffnet er das Fenster. Berlin ist nur eine Stunde entfernt, ich habe längst aufgehört alles verstehen zu wollen und lasse den Zauber der brandenburgischen Hamptons zu.

4. August 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 31/2023

Wenn man den Gedanken freien Lauf lässt, kriegt man es manchmal mit der Angst zu tun. Die Sorgen werden größer, die Befürchtungen blähen sich auf. Klar, es gibt Tricks, Medikamente, Übungen. Aber was auch immer man tut, die Angst wird vielleicht weniger – aber sie verschwindet nicht. Und dann, zufällig, ergattert man ein Stück Musik, im Laden, im Taxi, oder zu Hause im Radio, und vielleicht weil man sich mitschwingen ließ, fällt einem plötzlich ein, dass es auch alles anders kommen könnte. Diese Möglichkeit war einem in der Sackgasse des Kummers zuvor abhanden gekommen. Zurück in Zuversicht gehüllt, scheint einem das Schlimme nicht mehr unmöglich, aber unwahrscheinlich.

28. Juli 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 30/2023

Vater sagt, denk daran, du musst die Uhren umstellen. Oder die Heizung abdrehen. Oder kaufe jetzt frischen Mais, jetzt ist er gut. Ich sage, du bist auf einem anderen Kontinent, es sollte dich nicht kümmern, ob der Mais gut oder schlecht ist. In deinem Kopf ist viel zu viel Hier und viel zu wenig Dort. Er versteht nicht. Ihr seid meine Kinder, sagt er, wenn ich morgens aufwache, muss ich wissen, ob ihr friert, ob es regnet, ob der Bus kam. Das verstehe ich, sage ich, du willst uns nahe sein, aber du verpasst dein Leben. Nein sagt er, ich verpasse das Leben, wenn ich nicht so denke. Dann sagt er, morgen fährt dein Geschwister von Nürnberg nach München. Er muss einmal umsteigen, weil auf der Strecke gebaut wird. Dann kann er sich etwas zu trinken holen und die Beine vertreten. Vielleicht muss man Papa sein, um das zu verstehen, und ja, ich weiß, es wird mir fehlen, wenn es eines Tages nicht mehr so ist. Noch ist es so.

21. Juli 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 29/2023

Freundin schreibt: Morgen früh am Kotti, simit und çay? Tamam, antworte ich. Am nächsten Morgen, normalerweise gehe ich so früh nicht raus und schon gar nicht gehe ich frühstücken, weil warum?, sehe ich, wie die Geschäftsleute die Läden aufschließen, einer schüttet sogar einen Eimer Wasser über die Straße, und ich denke, das muss er nicht, das macht doch die BSR, die fegt, saugt und moppt die Straße in einem Wisch ("schliiiiip, schliiiip").

Am Kotti schlendert die Sonne den Horizont hinauf, das Gemüt heiter, Junkies dösen friedlich, und einfach so ist es ein guter Morgen. Çay tief und heiß, simit çıtır çıtır. Freundin plaudert wie ein Kanarienvogel. Ganze kotti bulvarı einfach nur Glanz und Glamour, wie Champs Élysées, aber ohne Paris, bien sûr, aber dafür mit Ay Yıldız Handy Shop und Grundsicherungs-Adel. Burhan Abi patrouliert bıyık zwirbelnd in fake Fendi über die Piazza vom Kotti Merkezi und vergleicht die Gemüsepreise.

14. Juli 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 28/2023

Ich war çok ama çok berührt, als Vater anrief und mitteilte, dass Onkel Turhan immer noch lebt. Es war nämlich so: Cousine Leyla hatte, überorganisiert wie sie ist, das Essen für das Begräbnis für den nächsten Morgen bestellt, weil ihr die Ärzte gesagt hatten, es dauere allenfalls ein paar Stunden noch, keineswegs erlebe Onkel Turhan den Sonnenaufgang. Bei den Temperaturen bringen sie die Toten gar nicht erst in die Kühlkammern, sondern waschen und beerdigen sie sofort. Also saß die Trauergemeinde am nächsten Morgen unter dem großen Feigenbaum und aß Reis mit Huhn. Onkel Turhan gurgelte derweil aber noch an den Geräten. Das ist nun drei Wochen her und ganz Karlıova spricht vom Reis mit Huhn, dem ersten und einzigen Leichenschmaus ohne Leiche, und meine Cousine ist stocksauer, weil der Arzt, wie sie sagt, "nur Scheiße" erzählt habe.

Leyla hat im Krankenhaus rumgeschrien, wir nehmen den Vater mit, wir nehmen den derhal mit, der lebt sicher noch yüz yıl, also hundert Jahre, und wie sie an seinem Bett rüttelt und der Arzt sie aber aus dem Zimmer scheuchen will und die Krankenschwestern zur Hilfe eilen, um die sterbende Geisel zu befreien und meine hala auch noch kommt und rumschreit, fliegt Onkel Turhans Seele unbemerkt aus dem Zimmer, fliegt über den Feigenbaum hinauf in den Himmel, und ich schaue gerade aus dem Fenster raus, hier in Berlin, und sehe seine Seele an der Mercedes Benz Arena vorbeifliegen. Ich sage, Vater, leg auf, er hat es geschafft, Onkel Turhan macht gerade seine Abschiedsrunde, und Vater lacht und meint, ne işi var orada?, ist er Tourist oder tot?, und ich winke Onkel Turhan zu und flüstere: Du musst jetzt heim, die drehen sonst alle endgültig durch.

7. Juli 2023 / Aus Zeit am Wochenende Ausgabe 27/2023

Gute Momente: Mely Kiyak erzählt Geschichten (2024)
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Name: Fredrick Kertzmann

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